Vom lohnenden Versuch, in den Schuhen des Dementen zu gehen
Interview: Daniela Wagner
2. November 2024

Was ist, wenn ein Christ, der sein Leben lang fröhlich mit dem Herrn Jesus unterwegs war und sein ganzes Vertrauen auf ihn gesetzt hat, plötzlich schlimme Dinge äussert und keine «Glaubensgewissheit» mehr hat? Oft taucht dann im Bekanntenkreis die Frage auf: «Zeigt er jetzt sein wahres Gesicht? War das alles nur geheuchelt?»

Norbert Rose: Wir haben bei Menschen mit Demenz oft erlebt, dass sie auch in schweren Verläufen noch lange sehr deutlich ihren Glauben an Jesus bezeugen und auch sehr differenziert beten. Das liegt unter anderem auch daran, dass viele seit ihrer Kindheit mit dem Glauben verbunden sind und auch die alten Erinnerungen davon geprägt sind.

Schwieriger wird es, wenn jemand erst spät zum Glauben an Jesus gekommen ist und vorher ein ganz anderes Leben geführt hat. Wenn die Erinnerungen nur noch von der frühen Zeit geprägt sind, kann auch die Zeit des Glaubens «verloren gehen». Das Bewusstsein für Glaubensinhalte mag zeitweise wie ausgelöscht sein. Alte Verhaltensweisen tauchen vielleicht wieder auf, die dem Glauben diametral entgegengesetzt sind. Und es stellt sich tatsächlich die Frage: War alles nur gespielt?

Wir dürfen nicht vergessen, dass es sich um eine Erkrankung des Gehirns handelt, bei der die geäusserten Gedanken nicht die Realität widerspiegeln, sondern zu völlig willkürlichen Formulierungen und Impulsen führen. Entweder formuliert der Kranke tatsächlich Gedanken, die aus der Zeit vor seiner Beziehung zu Jesus stammen – oder es sind Gedanken, die nicht von ihm selbst stammen, sondern die er immer wieder gehört und aufgeschnappt hat. Möglicherweise war er sogar entsetzt über solche Gedanken (gerade sehr gläubige Menschen, die schon immer mit Jesus gelebt haben, können davon betroffen sein). Gerade weil er so entsetzt war, haben sich diese Gedanken als eine Art geschlossenes «Narrativ» in sein Gedächtnis eingeprägt und werden plötzlich in einer launenhaften Situation laut ausgesprochen.

Wer in seiner Umgebung viele Flüche gehört hat, wird vielleicht selbst anfangen zu fluchen. Wer oft anzügliche Bemerkungen gehört hat, könnte selbst solche Bemerkungen äussern. Umgekehrt gilt aber auch: Wer viel Freundlichkeit erfahren hat, wird in der Demenz möglicherweise ebenso freundlich sein, weil ihm das entsprechende Vokabular noch zur Verfügung steht.

Das Gehirn eines dementen Menschen unterscheidet nicht unbedingt zwischen eigenen und fremden Gedanken und Ideen. So wie Kinder aus dem Kindergarten manche Formulierungen mitbringen und aussprechen, ohne den Sinn verstanden zu haben, tun dies auch demente Menschen. Sie spüren, dass in den Worten eine Wirkung steckt – das fasziniert sie und verleitet sie zu Aussagen, die nicht ihre eigenen sind.

Unser Glaube gründet sich auf das Bekenntnis: «Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus gerettet» (Apg. 16,31). Es ist völlig richtig, dass wir durch den Glauben an Jesus gerettet werden! Heisst das aber zugleich, dass wir nur «so lange» gerettet sind, wie wir ein klares Glaubensverständnis haben? Dass unsere Erlösung nur gilt, solange wir «bewusst» glauben? Was aber, wenn wir schlafen? Was passiert, wenn jemand im Koma liegt? Was geschieht, wenn jemand in einer Psychose ist? Ist dann die Gewissheit des Glaubens aufgehoben?

Die eigentliche Grundlage der Erlösung ist nicht, wie stark und klar das Glaubensbekenntnis und unser Denken ist, sondern dass unsere Erlösung am Kreuz Jesu entschieden wurde und dass wir diese Erlösung im Glauben angenommen haben. Die Taufe – wenn sie im Glauben vollzogen wurde – ist die äussere Bestätigung dafür. Damit sind wir Eigentum Jesu und Kind des Vaters geworden. Und es gilt die Verheissung: «Niemand wird sie aus meiner Hand und aus der Hand des Vaters reissen» (Joh. 10,28 f.; vgl. Röm. 8,38 f.).

In einer Demenz mag die eigene Glaubensgewissheit bzw. das Glaubensbewusstsein abhandenkommen – trotzdem bleibt doch die Glaubensgewissheit, dass der Mensch durch die Erlösung durch das Blut Jesu am Kreuz erlöst und teuer erkauft ist!

Müsste Gott nicht dem Demenzkranken die Gewissheit des Glaubens festigen?

Die Gewissheit des Glaubens bleibt oft fest! Wir könnten aber auch fragen: Müsste Gott nicht alle seine Kinder gesund erhalten? Warum sterben gläubige Menschen an Krebs oder durch Unfälle? Oder werden Menschen krank, weil sie schuldig geworden sind? Die Bibel ist hier eindeutig: Alle Menschen dieser Welt – ob Christen oder Nichtchristen – können krank werden; Demenz ist eine von vielen Krankheiten, die auch gläubige Menschen treffen kann. Wichtiger scheint mir zu sein, dass die Frage der Glaubensgewissheit viel früher geklärt wird! Dass jeder gläubige Christ definitiv sagen kann, worauf er seinen Glauben gründet – nämlich auf nichts anderes als auf die Erlösung, die durch Jesus geschehen ist und für alle Zeiten gültig bleibt. Es mag geschehen, was will: Ich habe sein Versprechen, dass er das gute Werk angefangen hat und auch vollenden wird!

Wie sieht Seelsorge mit dementenMenschen aus?

Einem dementen Menschen können nach dem Modell der beiden «Demenzgesetze» (nachzulesen im ersten Teil des Interviews, ethos 10/24) keine neuen Informationen vermittelt werden.

Lesen Sie das ganze Interview in ethos 11/2024