Eben noch stand eine Aussage in klaren Worten da. Doch ehe man sich versieht, haben Theologen die Bibel hermeneutisch bearbeitet. Dem, was dasteht, kann man offensichtlich nicht vertrauen. Wie kommt man zu einer biblischen Hermeneutik, der «Kunst», Texte richtig zu verstehen?
Dr. Rolf Hille
1. Juni 2016

Hermeneutik ist die Kunst des Dolmetschens. Man braucht sie, um Texte richtig verstehen zu können. Denn jeder, der einen Text – besonders aus einer anderen Kultur und Zeit – liest, steht in Gefahr, statt das vorliegende Wort auszulegen,
die eigenen Vorstellungen und Erfahrungen in dieses hineinzulesen. Also muss man ernsthaft fragen: Was hat der Autor ursprünglich gemeint und was kann er mir heute sagen?
Demnach ist die Hermeneutik eine seriöse und wichtige Kunst.

Doch sie hat auch ihre Haken und Fallen. Das fängt schon beim Namen des Hermes an. Hermes war in der griechischen Mythologie der Götterbote, aber er betätigte sich auch als
Patron der Diebe und Wegelagerer. Bei ihm musste man aufpassen, dass einem nichts geklaut wurde. Eben war die Handtasche noch da, plötzlich ist sie weg. Hat Hermes sie mitgehen lassen?


Historisch-kritischer Umgang mit der Bibel

Genau das ist das schmerzliche Gefühl, das viele Christen haben, wenn Theologen die Bibel hermeneutisch bearbeiten. Eben stand noch eine Aussage in klaren Worten da. Doch ehe man sich versieht, wird sie als unechtes Jesuswort oder als unechter Paulusbrief bezeichnet, und die Botschaft erscheint problematisch. In einem anderen Fall gebietet Gott eindeutig ein Verhalten, da kommen Hermeneuten und erklären, dass Paulus etwas völlig anderes vor Augen hatte, als er den Text schrieb. Also war alles nur falscher Alarm, ein bedauerliches Missverständnis. Der Dumme ist in der Regel der Laie. Ihm fehlen die Kenntnisse, um die Tricks von Hermes zu durchschauen. Dem, was in schlichten und klaren Worten dasteht, kann man offensichtlich nicht vertrauen. Vor allem wird aufgrund der historisch-kritischen Auslegung oft behauptet, die von der Bibel dargestellten historischen Ereignisse hätten so, wie sie die Bibel beschreibt, nie stattgefunden. Am Ende – so sagt es die hermeneutische Theorie – wollten die Schreiber nur ein besseres Verständnis der menschlichen Existenz, eine sozialere Welt oder einen christlicheren Humanismus. Das war’s dann.

Was soll man sagen zu der tiefen hermeneutischen Unsicherheit, die in der wissenschaftlichen Theologie meist unter
dem Label «historisch-kritische Forschung» läuft? Die Kritik an der historisch-kritischen Forschung bezieht sich auf die philosophischen und ideologischen Vorurteile, mit denen diese Methode an die Bibel herangeht. Sie praktiziert einen methodischen Atheismus, so, als ob es den lebendigen Gott nicht gäbe. Eine sachlich profunde, historische, philologische und archäologische Arbeit ist damit allerdings keineswegs ausgeschlossen.


Notwendigkeit einer biblischen Hermeneutik

Also, einen Götterboten brauchen wir sicher nicht. Wohl aber die verlässliche Botschaft Gottes. Der Hermes, um bei der so zwielichtigen Gestalt zu bleiben, muss getauft werden. Dem Hermes, der unversehens das Wort Gottes manipuliert, muss das Handwerk gelegt werden.

(Artikelauszug aus ethos 06/2016)