Vom Schmerz, mein Kind abgetrieben zu haben
Interview: Daniela Wagner
26. Juli 2025

Marie, nimmst du uns mit hinein, wie du aufgewachsen bist? Wie würdest du deine Kindheit beschreiben? 

Mein Start ins Leben war wenig erfreulich. Der ältere Bruder war erst 11 Monate alt, als ich – viel zu früh – zur Welt kam. Mühsam wurde ich im Spital aufgepäppelt.

Aus welchem Grund auch immer lehnte mich unsere Mutter ab. Der erstgeborene Sohn war ihr Liebling, während ich kein anerkennendes Wort, geschweige denn eine liebevolle Geste von ihr erhielt. Im Gegenteil: Stets stiess sie mich von sich. 

Ein besonders prägendes Erlebnis war der Moment, als ich – etwa vierjährig, ganz kindlich und voller Sehnsucht nach Nähe – meinem Vater auf den Schoss kletterte, als er von der Arbeit nach Hause kam. Ich erinnere mich noch sehr genau an diesen Tag. «Vergreif dich nicht an Marie!», schrie meine Mutter. Ab da musste Vater auf Abstand zu mir gehen. Nichts Verwerfliches war geschehen – er war mein Papa und ich ein kleines Mädchen, das sich nach Liebe, Wärme und Geborgenheit sehnte. Oft schlug sie mich, trat mir in den Rücken, hielt mich unter kaltes Wasser und erniedrigte mich immer wieder. Bis heute ist meine Mutter krankhaft eifersüchtig, und mein Vater bezieht keine Stellung. «Dem Frieden zuliebe», rechtfertigt er sich. Aber Frieden gab es bei uns zu Hause nicht. 

Mama konsultierte einen dubiosen Mann im angrenzenden Ausland, der okkulte Praktiken ausübte. Damit stiess sie eine Tür auf und gab dem Bösen Einlass und Macht über sich. Vieles in ihrem Leben kann ich mir nur so erklären. Einmal brachte sie ihm ein Foto von mir und er behauptete darauf, ich hätte mich mit Männern eingelassen. Seit diesem Zeitpunkt beschimpfte sie mich als «Hure».

Ich war etwa fünfzehn. Ihre ständigen Anschuldigungen, eine Hure zu sein, hielt ich nicht mehr aus. Dieser Qual wollte ich endlich ein Ende setzen und verlangte von den Eltern, mich zur Gynäkologin zu begleiten. Nach der Untersuchung schaute diese meine Eltern mit Nachdruck an und erklärte: «Ihre Tochter hatte noch nie etwas mit einem Mann.» Ich war glücklich. Endlich musste Mutter damit aufhören. Doch, auf der Rückfahrt drehte sie sich zu mir um und raunte: «Und du bist dennoch eine Hure!» Ein riesiger Schmerz durchzuckte mich, ich umklammerte den Türgriff, bereit, rauszuspringen. Ich wollte nur noch sterben. In dem Moment stellte Papa Mama doch tatsächlich ab: «Jetzt hörst du damit auf!» 

Ich vermute, eure Beziehung wurde leider nicht besser.

Nein, ihre Haltung mir gegenüber blieb. Vielleicht fragt man sich, warum ich das alles über mich ergehen liess. Ich hatte einfach nicht den Mut, mich ihr zu widersetzen. Sie hatte mir jedes bisschen Selbstwertgefühl genommen – ich fühlte mich wie Dreck. Mein älterer Bruder ging ähnlich respektlos mit mir um.

Einmal fragte ich sie: «Mama, warum behandelst du mich so?» Ihre Antwort war: «Ich kann nicht anders.» Manchmal, wenn Mama auf mich losging und mir in den Rücken trat, versuchte meine jüngere Schwester, mir zu helfen. 
Was war ich eifersüchtig auf meine Geschwister, die nicht wie ich dieser extremen Ablehnung ausgesetzt waren. 

Wie war deine Schulzeit? Hast du dort einen Platz gefunden?

In der Schule schlüpfte ich in die Rolle des Clowns. Ich versuchte immer, fröhlich und gut gelaunt zu wirken. Dabei trug ich innerlich eine grosse Last mit mir herum. Aber ich hätte niemandem anvertraut, was bei uns daheim wirklich los war.

Mein Onkel und seine Familie wohnten im selben Dorf, ebenso meine Grossmutter. Das waren Zufluchtsorte für mich. Gerne kümmerte ich mich um die kleinen Kinder und half mit. Doch irgendwann bekam Mutter es mit und verlangte von meiner Grossmutter, dass ich sie nicht mehr besuchen dürfe. Ich weiss noch, wie mein Grosi darüber weinte. Heimlich ging ich dennoch ab und an zu ihr. Sie verriet mich nie.

Ich sehnte mich so sehr danach, von meinen Eltern gesehen zu werden, dass ich mir manchmal den Tod wünschte – einfach nur, damit sie mich wahrnehmen. 

Als Teenager wurde ich in eine christliche Jugendgruppe eingeladen. Dort lernte ich meinen späteren Mann kennen. Wir haben uns zwar beide taufen lassen, aber das Evangelium haben wir nicht wirklich verstanden. In der Gruppe ging es eher darum, eine gute Zeit miteinander zu haben.
Ich hatte eben meine Ausbildung abgeschlossen, als mich meine Mutter nach einem Streit von jetzt auf gleich vor die Tür setzte. Mit einem Koffer in der Hand stand ich auf der Strasse. Was nun? Eine Frau half mir, ein Zimmer zu finden. Die Toilette befand sich auf dem Flur, und kurz nach meinem Einzug wurde ich eines Abends von einem angetrunkenen Mann vergewaltigt. Es war ein Albtraum. Er drohte mir: «Wenn du zur Polizei gehst, werde ich sagen, du hättest es gewollt.» Ich traute mich nicht, ihn anzuzeigen. So schnell wie möglich zog ich um und schluckte den Schmerz ein weiteres Mal hinunter.

Das zog sich durch mein ganzes Leben: «Du kannst nichts, du bist nichts, niemand will dich.» Wenn man solche Worte immer wieder hört, fängt man irgendwann an, diese tiefe Verletzung zu glauben. 

Am meisten sehnte ich mich jedoch nach der Liebe meiner Mutter. Stell dir vor: Trotz all der ständigen Erniedrigungen ging ich an den Wochenenden nach Hause. Es war ein Irrsinn! Aber ich hegte die Hoffnung, dass sie sich vielleicht doch noch ändern würde.

Du hast relativ jung geheiratet. Hast du nun endlich Liebe erfahren? 

Für mich war die Ehe eher eine Flucht. Endlich wollte mich jemand. Aber eigentlich wollte keine andere ihn – er war ein verwöhntes Einzelkind, hatte keinen Vater und seine Mutter vergötterte ihn. So war er es gewohnt, dass sich alles nur um ihn drehte.

Wir heirateten, aber bald merkte ich, dass ich mich seinen Vorstellungen anzupassen hatte. Zum Beispiel drängte er mich, mir die Haare blond zu färben, mich «sexy» anzuziehen und schwärmte von anderen Mädchen, denen ich nacheifern sollte.

Wir renovierten sein Elternhaus. Fünf Jahre lang arbeitete ich und half so mit, unser Zuhause zu finanzieren. Dann kam unsere erste Tochter, doch mein Mann tat, was er wollte. Auch nach der Geburt unserer zweiten Tochter war er kaum zu Hause. Am Wochenende hielt er sich auf dem Schiessplatz auf und meist war ich mit den Mädchen allein unterwegs.  Meine Töchter waren alles für mich. Ich wollte für sie die Mama sein, die ich selbst nie hatte. 

Mit der Zeit wurde mein Mann immer fordernder und verlangte von mir Dinge, die zunehmend perverser wurden. Ich fühlte mich benutzt. Oft lief ich weinend weg.

Mein Traum war geplatzt: Was ich mir so sehr gewünscht hatte – Liebe, jemanden, der mich sieht, sich um mich sorgt – konnte er mir nicht geben. Er war ein Egoist.

Wurde er je gewalttätig?

Oh ja. Wenn er nachts heimkam, passierte es oft, dass er über mich herfiel und mich regelrecht vergewaltigte. Einmal hielt er mir sogar eine Waffe an den Kopf, ein anderes Mal ging er mit dem Messer auf mich los. 

Meine Schwiegermutter lebte mit uns im Haus und sagte mir offen, dass ich hier nur geduldet sei. Sie traf alle Entscheidungen – beispielsweise, dass ich arbeiten sollte, während sie sich um die Kinder kümmerte. Heimlich gab sie ihrem Sohn Geld, wodurch sie eine starke Macht über ihn hatte. Er stellte sich nie hinter mich, nie gegen sie. Das Selbstvertrauen, ihn zu verlassen, hatte ich nicht. «Wo willst du auch hin? Dich will doch keiner!», höhnte er oft. Ich fühlte mich gefangen in meinem eigenen Zuhause.

Dann begann er ein Verhältnis mit einer jungen, attraktiven Nachbarin. Nach der Arbeit ging er direkt zu ihr. So konnte es nicht weitergehen! Trotz seiner Beziehung mit der Frau zwang er mich immer wieder, mit ihm zu schlafen. Und da passierte es – ich wurde schwanger. Mein Mann und seine Mutter verlangten von mir, es «wegzumachen». Er warf mir vor, ihn mit der Schwangerschaft erpressen zu wollen, dass er bei mir bleibt: «Ich mache dich kaputt, dass man dir die beiden Kinder wegnimmt.» Ich traute ihm alles zu! Ich war verzweifelt, fühlte mich ihm völlig ausgeliefert und hatte niemanden, der mir zur Seite stand. Aufgrund der Schwierigkeiten in unserer Ehe hatten sich meine Kolleginnen nach und nach zurückgezogen. 

Hättest du das Kind behalten wollen?

Ja! – Wenn ich nur gewusst hätte, wie es weitergehen sollte! Zum Gespräch beim Psychologen kam mein Mann nicht mit. Der Rat des «Fachmanns» war, ich solle das Kind behalten, es würde mir Alimente bringen. «Ich schaffe es nicht, ganz alleine mit allem fertig zu werden!», weinte ich. Es war, als wäre ich betäubt, alles um mich herum war wie in einem Nebel. Gefangen in einem Strudel, aus dem ich nicht mehr herausfand. Panik und das Gefühl der völligen Ausweglosigkeit überfluteten mich. Der Vater meiner Kinder drangsalierte mich unaufhörlich, ich hatte solche Angst davor, dass er mir etwas antut oder die Mädchen wegnimmt. Er meldete mich für die Abtreibung an. Ich verstand nichts mehr, bis ... 

... nach der Abtreibung?

Ich wusste nicht, wie mir geschah (weint). Ich wollte weglaufen, doch ich hatte keine Kraft mehr. Den Forderungen, denen ich mich gegenübersah, konnte ich nichts entgegensetzen. Mein Mann brachte mich ins Krankenhaus ... Es war wie ein böser Traum, aus dem ich erst erwachte, als es «vorbei» war. Er holte mich ab und fragte kalt: «Haben sie es endlich rausgeholt?» Da brachen alle Dämme in mir. Ich weinte so sehr. «Jetzt spinnt sie wieder, ist hysterisch!», sagte er zu den Mädchen und deutete mit dem Kopf in meine Richtung.

Nach der Abtreibung war ich «kaputt». Ein Teil von mir ist mit meinem Kind gestorben. Wenn nur eine Krankenschwester oder ein Arzt zu mir gesagt hätte: «Möchten Sie das wirklich? Es gibt doch einen Ausweg.» Aber damals sprach niemand mit mir, obwohl ich über Nacht im Krankenhaus bleiben musste.

Lesen Sie das ganze Interview in ethos 05/2025