Kränkungen machen krank, das sagt schon das Wort. Verletzte Gefühle erschüttern und sind oft Hauptauslöser für psychische Probleme wie Sucht, Depressionen oder Angststörungen. Viele Menschen schleppen einen ganzen Rucksack mit Kränkungen mit sich, ohne zu merken, wie explosiv und gefährlich diese im Verborgenen gehüteten Angriffe auf das Selbst sind.
Martin, Schreiner von Beruf, arbeitete über zwanzig Jahre in einem Familienbetrieb, der nicht zuletzt dank seines unermüdlichen Einsatzes stetig gewachsen war. Die Firma, damit identifizierte er sich. Mit Alfred, dem Seniorchef, der ihn sehr schätzte, entwickelte sich eine enge Freundschaft. Dass Martin einmal den Betrieb übernehmen würde, war ausgemacht, nicht zuletzt dehalb, weil der Sohn andere Pläne hatte. Dann starb Alfred unerwartet. Der Sohn wollte von der Abmachung nichts wissen, engagierte einen Betriebsleiter und setzte ihn Martin vor die Nase. Martin wehrte sich nicht, das war nicht seine Art. Aber diese Kränkung gärte in seinem Innern und mündete in eine schwere Depression, die ihn schliesslich arbeitsunfähig machte.
Nadine hatte Pablo, ihre Jugendliebe geheiratet. Fünfzehn Jahre waren sie zusammen. Pablo wollte keine Kinder, diese würden sie in ihrem Lebensstil beeinträchtigen, meinte er. Nadine litt darunter, fügte sich aber, weil sie ihren Mann liebte. Eines Tages, sozusagen aus heiterem Himmel, eröffnete ihr Pablo, dass er eine andere Frau liebe und diese auch heiraten werde. Nadine war am Boden zerstört. Als sie dann nach einem Jahr vernehmen musste, dass Pablo Vater geworden war, wurde aus der Kränkung Verbitterung.
Die nie heilende Wunde
Kränkungen kennt jeder. Wir kränken und werden gekränkt. Kränkungen sind peinlich, man redet nicht gerne darüber. Deshalb bleiben sie meist im Verborgenen. Beleidigungen, Beschimpfungen, abwertende Äusserungen und Gefühlsverletzungen, unverblümte Aggressivität – aber auch unterschwellig, versteckt –, die Palette der Kränkungsmöglichkeiten ist breit. Oft geschieht sie auch unbewusst und unabsichtlich. Die Kränkung ist eine Interaktion, ein sozialer Prozess zwischen zwei Menschen. Die Kränkbarkeit ist individuell. Den einen kränkt schon ein schiefer Blick oder eine harmlose Bemerkung, der andere merkt es gar nicht oder es perlt einfach an ihm ab. Wie auch immer: Die Kränkung zeigt ihre Wirkung. Sie ist wie eine eiternde Wunde, die sich nie schliesst. Und, wenn sie nicht richtig behandelt wird, ist sie möglicherweise lebensbedrohlich – für sich selbst und manchmal sogar für andere.
Erlittene Kränkungen äussern sich nicht akut, im Gegensatz zur Wut oder einem Ausbruch des Zorns. Sie entwickeln sich vielmehr schleichend wie in einem Gärungsprozess. Die meisten Ehen scheitern an Kränkungen.
Wenn die Leute an ihrem Arbeitsplatz nie gelobt werden, wenn ihre Meinung nicht angehört wird, wenn sie ausgeschlossen oder gemobbt werden – das alles wirkt kränkend.
Ob man will oder nicht: Die Kränkung weist immer auch auf die eigenen sensiblen Stellen, die wunden Punkte hin. Steckte nicht ein Kern Wahrheit darin, wäre man nicht so getroffen. Aus dieser Selbsterkenntnis heraus resultiert hoffentlich die Einsicht, dass wir uns in der eigenen Gekränktheit fragen, ob wir uns vielleicht anden gegenüber auch so verhalten und vorsichtiger werden mit unbedachten Äusserungen.
Die Macht der Kränkung
Prof. Dr. Reinhard Haller ist Neurologe und Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klink mit Schwerpunkt Suchterkrankungen und zudem einer der renommiertesten europäischen Gerichtsgutachter. In seinem Buch «Die Macht der Kränkung» bezeichnet er die Kränkung als Wurzel der meisten Übel dieser Welt wie Familientragödien oder schwere Verbrechen bis hin zu Kriegen. Der geübte Bibelleser würde widersprechen, denn die Wurzel allen Übels ist die Rebellion gegen Gott und seinen Herrschaftsanspruch über das eigene Leben. Daraus resultiert unter anderem die Kränkung und Kränkbarkeit des Menschen. Aber in den Auswirkungen, da können wir dem erfahrenen Therapeuten zustimmen. Seine Ausführungen sind beeindruckend in der Analyse und äusserst bewegend in den Fallbeispielen aus der (Kriminal-)Geschichte.
Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 12/2023