Am 5. September 1988 verlor ich meine Mutter. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich jemanden sterben, der mir wirklich nahestand und von Anfang an eine feste Konstante in meinem Leben gewesen war. Die gefürchteten Worte «Frau Sperry, wir können leider nichts mehr für Sie tun» waren Dezember 1987 gefallen. Als sie vom Arzt nach Hause kam, begann sie sofort mit der ihr eigenen Tapferkeit, Papiere zu sortieren, erste Notizen für ihr Testament zu machen und Kleider, die sie nicht mehr brauchte, aus dem Schrank zu räumen. Ich versuchte, ihre Haltung nachzuahmen. Nüchtern, sachlich, so tun, als ob sie auf eine Reise ginge, nichts weiter. Sie war gut vorbereitet. «Irgendwann fällt für jeden von uns der Vorhang», sagte sie. Sie erinnerte mich daran, dass wir Christen von der Aussicht leben, dass das Theaterstück noch nicht zu Ende ist. Es pausiert nur, bevor die nächste, die eigentliche Folge beginnt.
Jeder Mensch muss irgendwann den Verlust eines Elternteils verkraften. Entweder man hat es hinter sich oder noch vor sich.
Verfallsdatum
Die Aussicht auf ihren Tod erschien mir so unwirklich. Wie ein Traum, aus dem man jeden Moment aufwachen müsste, und alles wäre wie vorher, wie es sein sollte. Plaudern über Politik, Prominenz, Kinder, Alltag. Genüsslich den neuesten Klatsch aus dem Königshaus austauschen. Schnell zum Supermarkt, um Zutaten für das Curry zu holen. Preise vergleichen zwischen der Fähre nach Calais und einem Flug nach Stuttgart. Spazieren gehen.
Jede Kleinigkeit, die eigentlich für die Ewigkeit gedacht war, hatte plötzlich ein Verfallsdatum. Seltsam, wie instinktiv wir davon ausgehen, dass glückliche Zeiten nie enden werden. Und plötzlich kommt der erste Riss, und wir erkennen mit Schrecken, dass wir nichts in der Hand haben, dass die kleinsten Alltagsfreuden jederzeit vorbei sein können. Wir sitzen auf Koffern, die noch nicht gepackt sind. Wir haben die Ewigkeit im Herzen, aber hängen uns an die Vergänglichkeit und hoffen, dass sie ewig bleibt.
Reue
Wie dumm, peinlich und banal kamen mir all die nichtigen Dinge vor, über die wir uns gestritten hatten. Wie arrogant hatte ich behauptet, meine theologische Sicht der Dinge sei die richtige. Anstatt sie mehr über ihr Leben zu fragen, über den Einmarsch der Russen nach Ostpommern, den frühen Verlust ihres Vaters und der Heimat, was sie schliesslich am christlichen Glauben so überzeugte, dass sie Jesus ihr Leben anvertraute, wie man Teenager am besten erzieht.
Das Ende kam zu schnell. Diese Gespräche wurden nicht mehr geführt. Auch das gehört zur Trauer dazu: «Wenn ich nur noch einen Tag mit dir hätte, liebe Mutter, eine Stunde, um dir all die Dinge zu sagen, die ich noch auf dem Herzen habe. Um meine Dankbarkeit auszudrücken, dass du mir so einen guten Start ins Leben gegeben hast. Dass du darauf bestanden hast, dass ich meine Klavierübungen mache, mich belehrt, ermahnt hast, mir unerschrocken ins Gesicht gesagt hast, wenn ich arrogant oder besserwisserisch war («Komm aber ganz schnell runter, Kind, dieser Stolz macht dich ungeniessbar!»).
Wenn sie eines nicht leiden konnte, dann war es Arroganz. Ihr berühmtes, schmuckloses (und jedes Mal gleiches) Sackkleid für die Dinnerpartys der britischen High Society in Nigeria war ein klares Statement gegen die Angeberei der Reichen und Schönen. Nur sah sie auch in einem Sackkleid wunderschön aus. Sie hätte auch gut ausgesehen, wenn sie einen schwarzen Müllsack um sich gewickelt hätte.
Hastiger Abschied
Friedliche letzte Momente des Abschieds gab es bei uns nicht. Eher Chaos. Die ambulanten Schwestern kamen und gingen. Es sei zu viel Unruhe im Haus, schimpfte eine, Kinder hätten hier nichts zu suchen. Ich war mit unseren beiden Kleinen kurzerhand zu einem Abschiedsbesuch nach England geflogen, damit meine Mutter wenigstens einmal ihren neuen Enkel in den Armen halten konnte. Der Abschied war hastig. Sie lag im tiefen Koma, als ich mich für einen letzten Kuss in ihr Zimmer schlich.
Und wie sich die Umstände immer wieder verschwören, um solche Momente noch unerträglicher zu machen! Rückflug in Trauerstimmung mit Kleinkind und Baby im Schlepptau. Natürlich mit Verspätung. Hoffentlich genug Milch für die Fläschchen. Der Flug wird kurzfristig nach Nürnberg umgeleitet, weil Stuttgart um Mitternacht dicht macht. Wo in aller Welt bekomme ich mitten in der Nacht Babymilch? Schnell meinen Mann anrufen – es gab damals noch keine Handys –, eine fremde Frau bitten, kurz auf die Kinder aufzupassen, «Schatz, irgendwann sind wir da, ich weiss nicht wann ...». Kurz die Mutter anrufen, dass wir gut am Flughafen angekommen sind ... Oh, sie ist nicht mehr bei Bewusstsein. Mein Herz hat noch nicht einmal angefangen, sich auf das klaffende Loch einzustellen, das sich in der Mitte unserer Familie auftut.
Die Widrigkeiten des Lebens machen keine Pause, nur weil unser Herz am Verbluten ist. Plötzlich ist man auf einem anderen Planeten gelandet, will das alte Leben zurück. An den Türen all der vertrauten Lebensräume, in denen man sich jahrelang aufgehalten hat, stehen Stoppschilder. «Betreten verboten», «Bewohner unbekannt verzogen».
Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 11/2023