Wenn der markdurchdringende Ruf des Rothirschs in die Dämmerung dringt, ist Hühnerhaut garantiert!
Patrick Frischknecht
26. August 2018

Als Naturfotograf bin ich oft im Freien unterwegs. Frühmorgens geniesse ich das Einatmen der kühlen, klaren Luft und die wohltuende Ruhe. Nur das Lied eines Vogels ist hin und wieder zu hören.

Im Herbst gibt es im Alpenraum nebst dem Vogelgezwitscher noch einen weiteren Laut, der die Morgenstille durchbricht: das tiefe Röhren des Rothirschs. Schon oft habe ich diesem «Gesang» gelauscht und von Weitem auch das eine oder andere mächtige Tier gesichtet. Zu grosse Distanz und ungünstige Lichtverhältnisse verhinderten aber bisher gelungene Fotos.

Diese Umstände bewogen mich dazu, Alternativen zu suchen. Und so habe ich mich im Richmond Park, im Südwesten Londons, auf Fotopirsch begeben.

Kampf ums Hirschkuh-Harem

Diese im Jahre 1637 von König Charles I. gegründete Naturoase mit einer Fläche von gut 10 km2 ist der grösste der königlichen Parks in London und erfreut sich grosser Beliebtheit. Rund 5,5 Millionen Besucher kommen jährlich hierher. Es ist ein Erholungsgebiet für Einheimische und eine Attraktion für Menschen aus dem fernen In- und Ausland. Ob zu Fuss, mit dem Fahrrad oder dem Auto: Primär möchten die Parkbesucher einige der hier frei lebenden Rot- und Damhirsche sehen. Mit einer Population von insgesamt über 650 Tieren stehen die Chancen gut, insbesondere in den Morgen- und Abendstunden. Die beiden Hirscharten unterscheiden sich aufgrund von Grösse, Farbe sowie Geweihform deutlich und gehen sich meist aus dem Weg. Aufgrund seiner körperlichen Überlegenheit ist der Rothirsch klar der «König des Parks».

Während der Brunftzeit im Oktober und November zeigen sich die Hirschbullen von ihrer prächtigsten Seite. Stolz präsentieren sie ihre imposanten Geweihe, die sie später in heftigen Kämpfen gegen ihre Rivalen einsetzen. Bevor es richtig losgeht, kann man häufig ein «Vorspiel» beobachten, welches an einen Synchron-Tanz erinnert. Die zwei Kontrahenten laufen parallel nebeneinander her, wenden sich dann voneinander ab, röhren in der Gegend herum, ehe sie sich einander wieder nähern, den Kopf nach unten senken und dann mit voller Wucht aufeinanderprallen. Der Verlierer wird in die Flucht geschlagen und falls der Kampf im hohen Farndickicht stattgefunden hat, haben die Tiere anschliessend mit neuen Herausforderungen zu kämpfen ...!

Solche Revierkämpfe sind äusserst spektakulär und können grundsätzlich aus nächster Nähe mitverfolgt werden. Aber Achtung! Obschon das Wild an Menschen gewöhnt ist, wird dem Parkbesucher ein Mindestabstand von 50 Metern nahegelegt. In der Praxis findet das jedoch kaum Beachtung. So nähern sich Besucher den Tieren oft bis auf wenige Meter, was selten, aber regelmässig mit ernsthaften Konsequenzen endet. Jährlich verzeichnet man schwere Verletzungen durch Hirschattacken und immer wieder müssen Überneugierige in Panik auf Bäume klettern, um sich vor den aggressiven Bullen in Sicherheit zu bringen. Für mich als Naturliebhaber ist es aber eben diese Wildheit, welche die Begegnung mit diesen Tieren – trotz umringender Zivilisation – zu einem unvergesslichen Erlebnis macht.


Artikelauszug aus ethos 09/2018. Lesen und bewundern Sie die beeindruckende Bildstrecke im aktuellen Heft.