Systemsprenger sind mein Konzert-Publikum.
Jörg Swoboda
19. November 2018

Die Menschen hier sind entweder suchtkrank, psychisch krank, aus der Haft entlassen oder von Haft bedroht. Einige kommen aus der Obdachlosigkeit. Viele haben Psychiatrie und Massregelvollzüge hinter sich. Unter ihnen auch sogenannte «Systemsprenger», an denen sich Mitarbeiter anderer suchttherapeutischer Einrichtungen schon die Zähne ausgebissen haben. Auch verurteilte Straftäter, die statt im Gefängnis zu sitzen, hier resozialisiert werden sollen. «Therapie statt Strafe» lautet in diesem Haus das anspruchsvolle Motto.

Mein Publikum, dreissig Männer und eine Frau, haben eines gemeinsam: eine katastrophale Lebensgeschichte. Sie alle haben sich vorgenommen: «Ich will mein Leben wieder in den Griff bekommen.» Das ist wie ein Ticket, ohne das keiner hier ist. Diesem Ziel dient neben handfester Arbeitstherapie und sozialtherapeutischen Einzel- und Gruppengesprächen eine feste Tagesstrukturierung. Dazu gehört auch die Botschaft der Bibel, dass Jesus vom Himmel auf die Erde gekommen ist, um Hoffnungslose und Verlorene zu retten. Diese Gute Nachricht ist hier die Basis aller Bemühungen. Manche ertragen weder die Therapie noch diese Botschaft und gehen lieber wieder ins Gefängnis zurück, wo sie dann ihre Reststrafe absitzen müssen.

Begegnungen der besonderen Art

Der Leiter der Einrichtung, ein Freund, hat mich wieder einmal eingeladen, den Bewohnern in mehreren Gruppenstunden Texte der Bibel aufzuschliessen. Beim Konzert singe ich Lieder der Hoffnung und spiele Gitarre dazu. Die Menschen hören nicht nur zu, sondern stimmen gern in die Mitsingelieder ein. Denn viele der Lieder sind ihnen durch die täglichen Morgenandachten gut bekannt.

Mein Publikum ist also speziell. Auch sonst gibt es Auffälligkeiten. Zum Beispiel Marcus in der ersten Reihe. Er ist ein Getriebener. Plötzlich steht er auf, kratzt sich ausgiebig am Allerwertesten und setzt sich wieder hin. Fünf Sekunden später dieselbe Prozedur. Kaum sitzt er, steht er wieder auf, geht zwei Meter nach links, kehrt um und setzt sich wieder. Das alles mit unbeweglichem Gesicht, als wäre er die Marionette eines unsichtbaren Puppenspielers. Drogen haben diesen früher intelligenten Mann zerstört. Mehrmals spricht er laut dazwischen, bis ich sage: «Jetzt hältst du mal die Klappe! Zwei Sender auf dem Bildschirm geht nicht.» Überraschte Blicke. Einige grinsen anerkennend. Meine scharfe Ansage dringt zu ihm durch. Er gibt Ruhe, jedenfalls für eine Weile.

Für die Pausen zwischen den Gruppenstunden hatte ich Einzelgespräche angeboten. Dass Silvio kam, überraschte mich. Bisher hatte er mir demonstrativ halb den Rücken zugekehrt, während ich sprach. Wenn er mich zwischendurch doch einmal anschaute, dann mit feindseligem Blick. Ab und zu halblaut undeutlich gemurmelte Kommentare, eindeutig jedoch allemal. Jesus hatte mir geholfen, freundlich zu bleiben. Diese Botschaft war offensichtlich angekommen. Silvio kam also zwischen zwei Gruppenstunden zu mir und erzählte, dass er betet. Dabei schaute er mir das erste Mal in die Augen. Ein Vorhang ging auf. Er fragte: «Wie kann ich zu einem Gott beten, von dem ich nicht weiss, ob es ihn gibt?» – «Das Herz hat Gründe, die der Verstand nicht kennt», hat Blaise Pascal gesagt. Und so erzählte ich ihm von mir und von meiner Zeit, als ich noch auf der Suche nach Gott war. Damals hatte ich gebetet: «Gott, ich weiss gar nicht, ob es dich gibt, und ich komme mir deshalb blöde vor, zu dir zu beten. Aber ich tue es trotzdem. Zeige dich bitte. Ich will an dich glauben.»

Das erzählte ich Silvio und machte ihm Mut, indem ich Gott zitierte: «Ich will mich von denen finden lassen, die mich von ganzem Herzen suchen.» Ich berichtete, dass Gott damals reagiert hat, und wie ich Christ geworden bin. Dann fragte ich, ob ich jetzt für ihn beten dürfe. Damit war er einverstanden, und so nahm ich ihn auf die gute christliche Art ins Gebet.

Lesen Sie den ganzen Bericht in ethos 11/2018.