Er lebte in der gegenwärtigen Welt, aber er lebte nicht für sie. Was wir von Daniel lernen können.
Jochen Klein
15. Dezember 2022

Die Behauptung, dass hinter der Geschichte ein Gott steht, klingt heute provokativ und widerspricht direkt den säkularen Weltdeutungen. Von Augustinus bis ins 18. Jahrhundert war jedoch die göttliche Vorsehung für die europäischen Historiker ein Teil ihres Geschichtsverständnisses. Es ist eine Illusion zu glauben, dass eine Geschichtsdeutung, die jegliche Möglichkeit eines Eingreifens Gottes verneint, «objektiv» und damit zu bevorzugen sei. Schliesslich ist jede Geschichtsbetrachtung gedeutete Geschichte und damit vom Deutenden und dessen Vorverständnis abhängig.

Der Prophet Daniel war mit einem Weltbild konfrontiert, das dem heutigen naturalistischen sehr ähnlich ist. Vor ungefähr zweieinhalbtausend Jahren in dem kleinen Staat Juda im Nahen Osten geboren, wurde er bereits in jungen Jahren völlig entwurzelt. Nebukadnezar, der König von Babylonien, hatte Daniel und weitere junge Mitglieder der Oberschicht um ca. 605 v. Chr. gefangengenommen und in seine Hauptstadt Babylon gebracht. Dort bildete er sie unter anderem für die Verwaltung aus. Die jungen Männer mussten mit dem Schock und dem Verlust ihrer vertrauten Umgebung, ihrer Verwandten und Freunde, Gesellschaft und Kultur fertig werden.

Für Daniel war es hier besonders schwierig, seine Glaubensüberzeugungen auszuleben, weil fast alles anders war, als er es gelernt hatte – so z. B. die Religion, die Sitten, das politische System, die Gesetze, das Bildungssystem und die Sprache. Wie schaffte er es, seinen ursprünglichen Glauben nicht zu verleugnen und sich gleichzeitig in den neuen Herausforderungen zu bewähren? Immerhin gelangte er bald in hohe Positionen im babylonischen Reich und später auch noch im darauffolgenden Reich der Meder und Perser.

Daniels Bildungskarriere

Zu Beginn seines Buches macht Daniel deutlich, dass er sich nicht als Spielball des Schicksals sieht, sondern dass hinter Nebukadnezars Sieg über Juda Gott selbst steht. Daniels Glaube an Gott liess ihn die Eroberung Jerusalems durch die Babylonier sicher schon erwarten, denn der Prophet Jeremia hatte das Volk Israel bereits Jahre zuvor gewarnt, wenn es nicht die Kompromisse mit dem Götzendienst und die unmoralischen Praktiken der sie umgebenden Heidenvölker beenden würde. Da das Volk sich auf Unmoral, Ungerechtigkeit und Götzendienst einlässt, wird es jetzt von der götzendienerischsten Nation in die Gefangenschaft geführt – und so auch Daniel.

Das Erste, was er in seinem Buch über Gott bewusst macht, ist, dass Gott persönlich in die Geschichte der Menschheit eingreift. Eine Aussage von grosser Tragweite. Daniel begnügt sich nicht damit, uns zu informieren, was damals geschah, sondern er will auch deutlich machen, warum es geschah. Dass Gott, der ausserhalb der Geschichte steht, der grosse Sinngarant ist, erläutert auch Paulus in Apostelgeschichte 17: Gott lenkt den Lauf der Geschichte, aber das schliesst die menschliche Verantwortung nicht aus. In unserer Begrenztheit werden wir niemals in der Lage sein, das Verhältnis zwischen Gottes Wirken in der Geschichte und der Freiheit und Verantwortung des Menschen vollständig zu verstehen. Das Wissen, dass Gott letztlich der Herr der Geschichte dieser Erde ist, ist aber auch in Krisenzeiten wie bei Daniel enorm tröstlich. Die letzten Worte des Buches zeigen eine weitere Hoffnungsperspektive: die Hoffnung auf die Auferstehung.

Wir können die Stabilität und Zielstrebigkeit von Daniels Leben nur dann verstehen, wenn wir die innere Einstellung begreifen, von der er geprägt war: Er lebte in dieser gegenwärtigen Welt, aber er lebte nicht für sie.

Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 01/2023