Unser Selbstwertgefühl ist abhängig von der Beurteilung anderer und unserem eigenen Gewissen. Man kann sich nicht selbst Wert geben. Selbstachtung kann man sich nicht einreden. Nur wenn andere uns lieben, können wir uns annehmen. Nur wenn wir für andere wichtig sind und gebraucht werden, können wir uns selbst respektieren. Das Selbstwertgefühl bildet den Eckpfeiler einer gesunden Persönlichkeit. Verlogene Wertmassstäbe und ungerechte, parteiische Bewertungen lösen Selbstzweifel und eine Epidemie von Minderwertigkeitskomplexen aus.
Ferenc Pálhegyi
1. September 2018

Körperliche Attraktivität, sportliche Superleistungen, Geld und Macht werden bewundert und honoriert. Lange nicht jeder verfügt über die geforderten Attribute. Die Mehrzahl geht leer aus. Ihr Wert wird infrage gestellt. Erstaunlicherweise leiden aber auch Models, die «Schönen» dieser Welt genauso wie Manager mit dicken Bankkontos und Politiker mit weltweitem Einfluss an mangelndem Selbstwertgefühl. Wie ist das möglich? – Der «Beweis» für unseren Wert liegt ausserhalb von uns selbst.

Man erzählt sich die Geschichte eines Königs, der einen religiösen Würdenträger nach seinem Wert gefragt haben soll. Anscheinend plagten ihn trotz seiner Stellung gewaltige Selbstzweifel. Der Gefragte antwortete: «Neunundzwanzig Silberlinge.» Der König war empört. «Wie kommst du dazu, mich für lumpige 29 Silberlinge einzuschätzen?» – «Nun, Jesus Christus, der Welterlöser, wurde für 30 Silberlinge verraten – und ich nehme an – Majestät gehen mit mir einig –, dass sein Wert etwas höher liegt.»

Was bin ich wert? Eine Frage, die uns alle beschäftigt.

Der Spiegel

«Werden nicht zwei Sperlinge um einen Pfennig verkauft? Und nicht einer fällt auf die Erde ohne euren Vater ... Fürchtet euch nun nicht, ihr seid vorzüglicher als viele Sperlinge» (Matth. 10,29.31).

Vor einigen Jahren fuhr ich fast täglich während des starken Berufsverkehrs mit der Strassenbahn durch die Stadt. Da stand ich dann im dichten Gedränge eingekeilt und konnte dabei ungewollt mithören, worüber sich die nächststehenden Mitreisenden unterhielten. Vielleicht war es der Berufseifer eines Psychologen, dass ich meine Aufmerksamkeit auf die Gespräche richtete (was sich keineswegs gehört) und festzustellen versuchte, welche Themen am häufigsten erörtert wurden.

Die Diskussionen drehten sich vor allem um zwei Themen: Man schimpfte über jemanden, der nicht anwesend war, oder man lobte sich selbst. Beide Gesprächsthemen verflochten sich oft geschickt miteinander, sodass es etwa tönte: «Ich habe ja meine besonderen Erfahrungen, und deshalb habe ich ihm gleich gesagt, dass er da einen Blödsinn machen würde. Aber an den kannst du ja hinreden, wie du willst. Er ist eben ein ...»

Ich denke, dass beide Themen auf dieselbe Wurzel zurückzuführen sind: das Minderwertigkeitsgefühl des Sprechers.

Wenn wir über jemanden schimpfen (besonders, wenn wir es hinter seinem Rücken tun, sodass er sich nicht verteidigen kann), fühlen wir uns dem Betreffenden überlegen. Je schlechter der andere dasteht, desto besser schneiden wir dabei ab. Je detaillierter wir die Schwächen, das Versagen oder das Unvermögen eines andern schildern, desto intensiver können wir uns der Illusion hingeben, über alle diese Unzulänglichkeiten erhaben zu sein. «Nein, solche Dummheiten würde ich nie begehen ...» – «Und ist es nicht schlimm, wenn ein Mensch derart ...» Manchmal bedeckt man diese Haltung noch mit einem Schleier der Undurchsichtigkeit und betont «demütig»: «Niemand ist perfekt; auch ich habe meine Fehler, aber ...!»

Es ist kaum zu glauben, aber es ist wahr: In einigen japanischen Grossstädten erschien auf den Strassen ein Automat (vereinfachter Roboter), der den Leuten auf die Schulter klopfen konnte. Wer ein entsprechendes Geldstück in den Apparat einwarf, erhielt dafür ein paar anerkennende Schläge auf die Schulter. Und das Überraschende: Die Einnahmen dieser Maschinen deckten nicht nur die Kosten ihrer Herstellung und Instandhaltung, sondern erwirtschafteten auch noch einen guten Profit!

Selbstbild und Sozialspiegel

Die Bezeichnung «Sozialspiegel» stammt von G. M. Mead. Damit ist die verbale oder nonverbale Reaktion unserer Mitmenschen auf unser Verhalten gemeint. Sie spielt nicht nur in der seelischen Entwicklung eines Kindes eine grosse Rolle, sondern auch in unserem Alltag. Denn unser Selbstbild entfaltet sich in erster Linie mit Hilfe des Sozialspiegels. Das Selbstbild ist ein wesentlicher Faktor und bestimmt weitgehend unser Verhalten.

Hört ein Kind ständig von den Erwachsenen, wie schön, brav und entzückend es sei, denkt es auch so von sich. Der verbale Sozialspiegel wird meist auch durch entsprechende Mimik und Gesten verstärkt. Aber auch das Gegenteil besitzt seine Wirkung: Wenn immer wieder betont wird, das Kind sei faul, ein Looser oder Dummkopf, dann wird es das auch glauben. Was der Sozialspiegel zeigt, prägt das Selbstbild des Kindes entscheidend.

Doch warum sollten wir uns darüber ernsthafte Gedanken machen? Nun, das Selbstbild nimmt entscheidenden Einfluss auf unser Verhalten, hauptsächlich auf die Leistung, aber auch auf die Eingliederung in die Gesellschaft.

Wer überzeugt ist, scharfsinnig zu sein und einen besonderen Sinn für Mathematik zu haben, der hat grössere Chancen, eine Mathematikaufgabe erfolgreich zu lösen als jemand mit der gleichen Fähigkeit und Ausbildung, der sich jedoch für einen Dummkopf und in Mathematik für ausgesprochen unbegabt hält.

Der Unterschied in der Leistung dieser beiden Personen resultiert aus dem Mass ihrer Selbstachtung oder des Selbstzweifels. Mit anderen Worten: Ihre Selbstbilder sind unterschiedlich. Die Art der Entfaltung ihrer Selbstbilder war vielleicht nur davon abhängig, inwieweit der eine die ersten Aufgaben erfolgreich lösen konnte und von seinem Lehrer gelobt wurde. Das Unglück des anderen bestand womöglich lediglich darin, dass er gleich zu Beginn versagte und der Lehrer darüber abschätzige Bemerkungen fallen liess.
Ähnliche Erfahrungen kennen wir auf dem Gebiet der sozialen Integration, also der Einfügung in die Gemeinschaft und der Kontaktaufnahme. Wer seine guten Eigenschaften kennt, dem fällt es leichter, ungehemmt Beziehungen zu knüpfen. Ein Mensch, der mit Minderwertigkeitsgefühlen zu kämpfen hat, zieht sich jedoch ängstlich zurück.


Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 09/2018.