Internetfähige Handys bieten jungen Menschen Zugang zu einem massiven Angebot an sexuell freizügigem Bild- und Filmmaterial. Wie können Eltern ihre Kinder vor diesen Einflüssen schützen?
Gerrit Alberts
16. März 2019

«Dies aber wisse, dass in den letzten Tagen schwere Zeiten eintreten werden ...» (2. Timotheus 3,1)

Durch die digitale Revolution ist ein Problemfeld von früher ungekanntem Ausmass entstanden.

«Das Internet ist für uns alle Neuland.» Mit dieser Aussage hat Kanzlerin Angela Merkel 2013 während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem damaligen amerikanischen Präsidenten Barack Obama für grosses Gelächter gesorgt. Diese Aussage mag für Frau Merkel stimmen, aber nicht für viele Grundschüler der Republik. Nicht Neuland, aber ein vermintes Gelände war die Cyberwelt für die jungen Leute, von denen im Folgenden die Rede ist.

Sexting und Pornokonsum

Lea ist 13 Jahre alt und besucht eine Gesamtschule: Ihrem 16-jährigen Freund Boris schickt sie per WhatsApp erotische Selbstporträts (Sexting). Nach einigen Wochen möchte Lea die Freundschaft beenden. Boris setzt sie unter Druck: «Wenn du mich verlässt, werde ich deine Fotos im Internet verbreiten.»

Lea lässt sich nicht einschüchtern und macht trotzdem Schluss. Boris verbreitet daraufhin die Fotos, schickt sie gezielt an Schulkameraden und macht sie auf einer Webseite öffentlich zugänglich. In den folgenden Tagen folgt ein Spiessrutenlauf. Mitschüler feixen und blicken tuschelnd in Leas Richtung. Andere halten sich mit offenen herabsetzenden Äusserungen und anzüglichen Bemerkungen nicht zurück.

Als alle Ermahnungen und sonstigen Massnahmen der Lehrkräfte die Verbreitung und Kommentierung durch die Mitschüler nicht eindämmen, traut Lea sich nicht mehr zur Schule und gerät in eine Depression. Die Eltern stellen einen Strafantrag, z. B. wegen Verbreitung kinderpornografischer Bilder (§ 184b StGB).

Boris wird zwar von der Polizei verhört, aber das Strafverfahren wird nach einigen Monaten eingestellt. Nach monatelanger Schulverweigerung wechselt Lea schliesslich die Schule.1

Wie sich Pornosucht entwickelt – ein Student berichtet: «Bei mir ging es eigentlich ganz harmlos los. Am Anfang hab ich mal aus Neugier Sexpics angeguckt. Dann wurde es wöchentliche Routine, dann tägliche ...

Nach ein paar Monaten habe ich angefangen, nicht mehr nur gewöhnliche, sondern mal auch ungewöhnliche (unrealistische, ... auch in einer Grauzone der Legalität befindliche) Pics anzuschauen. Natürlich wurde aus täglich mehrmals täglich. Ich ging auch nicht mehr ans Telefon. Als meine Freunde anfingen, Fragen zu stellen, sagte ich, ich hätte viel zu lernen. Hätte ich auch gehabt, aber ich surfte nächtelang vor dem PC auf der Suche nach dem perfekten Bild. Na – und dann sass ich müde an der Uni.

Ich habe nebenbei gejobbt und ab und zu auch meinen Arbeitgeber angerufen und gesagt, ich sei krank, ich könne nicht kommen, wenn ich mal wieder die ganze Nacht durchgesurft hatte. Lernen konnte ich auch nicht mehr: unregelmässiges Schlafen, unregelmässige Nahrungsaufnahme, Unwohlsein (Depression?) aufgrund fehlender sozialer Kontakte (habe ja meine Freunde vernachlässigt) etc. – ein Teufelskreis.

Ich traute mich nicht mehr unter Freunde, weil ich keinen Bock mehr hatte, dauernd zu berichten, dass ich immer noch studiere und wieder die Prüfungen nicht mitgeschrieben hatte. Und weil ich keinen Kontakt hatte, wurde ich einsam. Habe mich dann in die irreale Welt des Netzes geflüchtet, auf der Suche nach dem Kick. Danach fühlte ich mich noch schlechter und traute mich erst recht nicht mehr aus der Wohnung. Wohl auch aus Scham.»*

«... und ich sah unter den Einfältigen, bemerkte unter den Söhnen einen unverständigen Jüngling ...» (Sprüche 7,7)


Verbreitung von Sexting und Pornokonsum unter Kindern und Jugendlichen

Möglicherweise erscheinen die beiden Geschichten vielen Eltern sehr ausgefallen und fernab ihrer Familienrealität. Welche Verbreitung haben Sexting4 und Pornokonsum heute unter jungen Leuten? Um den Leser nicht mit einer Zahlenflut zu überschütten, beschränke ich mich auf wenige Angaben und verweisen für weitere Untersuchungsergebnisse auf die Literatur in den Quellenangaben.

2014 verfügten 89 % aller 12- bis 13-jährigen Kinder über ein internetfähiges Handy5, mit steigender Tendenz. Nach der Dr.-Sommer-Studie 2016 verschickten 41 % der Jungen und 61 % der Mädchen im Alter von 13 Jahren Selfies (Selbstporträts).6

Wie viele Kinder und Jugendliche sexuell freizügiges Bildmaterial von sich verschicken, darüber gibt es sehr unterschiedliche Angaben, die u. a. davon abhängen, wie man die Grenze zwischen Sexting und «normalen» Selbstporträts definiert. In einer Übersichtsarbeit von Klettke, Hallford und Mellor (2014) ergab sich eine durchschnittliche Häufigkeit für das Versenden von erotischen Selbstaufnahmen bei ca. 12 % der befragten Jugendlichen.7 Bei Erwachsenen liegt die Quote bei 53 %.8

Laut einer US-amerikanischen Studie der National Campaign to Prevent Teen and Unplanned Pregnancy (NCPTUP) von 2008 haben 20 % der 13- bis 19-Jährigen und 59 % der 20- bis 26-Jährigen bereits Sextings versendet. 48 % der Jugendlichen und 64 % der jungen Erwachsenen haben Sextings empfangen.9

Mitchell u. a. (2012) berichten, dass 21 % der von ihnen befragten Jugendlichen, die Sexting-Bilder aufgenommen hatten bzw. darin erschienen, sich dadurch nachträglich sehr oder extrem belastet, beschämt oder verängstigt fühlten.10

Nach einer 2008 veröffentlichten Befragung der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS) in Zusammenarbeit mit der Universität London unter 16- bis 19-Jährigen (n = 6.556) konsumierten 20,6 % der männlichen und 1,4 % der weiblichen Jugendlichen täglich, 42 % der männlichen und 10 % der weiblichen Jugendlichen wöchentlich Pornografie. Lediglich 6 % der männlichen und 29 % der weiblichen Befragten gaben an, nie Pornografie anzuschauen.11

Nach der repräsentativen Dr.-Sommer-Studie von 2009 (n = 1.228) haben bereits 69 % aller 13-jährigen Jungen und 40 % der Mädchen gleichen Alters pornografische Filme und Bilder gesehen. Mit 17 Jahren ist der Anteil bei männlichen Jugendlichen auf 93 % und bei weiblichen auf 80 % angewachsen.12

Die genannten Studien wurden vor dem Zeitalter des mobilen Internetzugangs via Smartphone durchgeführt. Mit anderen Worten: Im fortgeschrittenen Jugendalter und in der Erwachsenenwelt gibt es kaum noch Männer, die keine Pornografie schauen.

Auf einem Internetforum, das Hilfen bei Pornosucht anbietet, kommen die Autoren zu der merkwürdigen, aber wahrscheinlich nicht sehr realitätsfernen Feststellung, «dass ein Grossteil der Studien bzgl. Pornosucht daran scheitert, dass es keine Probanden gibt, die keine Pornografie konsumieren».13

Wer glaubt, dass «fromme» Familien von dieser Problematik nicht betroffen sein können, der irrt sich – und zwar gewaltig.

«Der Weg des Narren ist richtig in seinen Augen, aber der Weise hört auf Rat.» (Sprüche 12,15)


Die schädlichen Auswirkungen der Pornografie

Wiederholt werden die Folgen des Pornokonsums in den Medien als harmlos dargestellt. So zitiert beispielsweise die Zeitschrift «Der Spiegel» die Hamburger Sexualforscherin Matthiesen, «die meisten Heranwachsenden ... hätten sich überwiegend problemlos jene reflektierte ‹Pornografie-Kompetenz› erarbeitet, der sie auch dringend bedürften, um in dieser neuen Pornowelt on- und offline zu bestehen».14

Mit einer erstaunlichen Deutungsakrobatik kommen auch die Sexualwissenschaftler Kuhle, Neutze und Beier zu dem Ergebnis: «Mit keinen der ausgewerteten Studien lassen sich somit schädliche Auswirkungen des Pornografiekonsums auf das Sexualleben Jugendlicher und ihre Lebensgestaltung insgesamt belegen.»15

In einer von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung geförderten Interviewstudie an 160 Grossstadtjugendlichen, die intensiv Pornografie anschauten, kommen die Professoren Schmidt und Matthiesen zu der Schlussfolgerung:

«Die ‹sexuelle Revolution› und ihre Folgen zeigen, dass Jugendliche in Zeiten sexuellen Umbruchs als Gruppe zu hohen Anpassungsleistungen in der Lage sind und eine hohe Fähigkeit zur Selbstregulierung ihrer nicht mehr durch strenge gesellschaftliche Normen kontrollierten Sexualität haben.»16

Jede(r) Betroffene bzw. jede(r), der etwas von dem Elend der Betroffenen weiss, kann sich über diese Art der Volksverdummung nur wundern und ärgern. Zahlreiche internationale Studien haben die schädliche Wirkung des Pornokonsums überzeugend verdeutlicht. Von den umfangreichen und teilweise verheerenden Auswirkungen werden hier drei Aspekte näher beleuchtet:

  1. Der negative Einfluss auf die Bindungsfähigkeit und die sexuelle Zufriedenheit
  2. Die Suchtgefahr
  3. Die zunehmende Bereitschaft zu sexueller Gewalt17


«Sie suchen, was sie nicht finden, in Liebe und Ehre und Glück. Und sie kommen belastet mit Sünden und unbefriedigt zurück.» (E. Fürstin von Reuss)

Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 03/2019.

 

Quelle: Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags, Fussnoten und Schutzsoftware-Programme mussten aus Platzgründen weggelassen werden. Alle Links finden Sie in dem Gratis-Download unter: https://clv.de/clv-server.de/wwwroot/pdf/256195.pdf
*Aus: Freitag, T.: Fit for Love? Praxisbuch zur Prävention von Internet-Pornografie-Konsum, 2015³, S. 159