Der bekannte und viel bewunderte Professor einer Hochschule sitzt in seinem Studierzimmer an der Predigtvorbereitung für den kommenden Sonntag. Auf dem Schreibtisch liegen zahlreiche Nachschlagewerke, die Bibel fehlt.
Arno C. Gaebelein
22. März 2018

Er ist gebeten worden, in der Universitätskirche zu predigen. Der Dekan und die Fakultät der Universität würden da sein, ebenso Hunderte von Studenten und die meisten der führenden Geschäftsleute der Stadt. Eine feine Gesellschaft, die die Morgengottesdienste in der prachtvollen Kirche auch wegen des auserlesenen Musikprogramms gerne besuchen. Er ist hoch motiviert, sein Bestes zu geben.

Einige seiner Kollegen, die vor ihm gepredigt haben, sind massiv kritisiert worden. Vor zwei Sonntagen stand ein Prediger auf der Kanzel, der den Ruf hat, zum sogenannten Fundamentalismus zu neigen. Nach dessen Predigt war der Tenor, wenn auch unter vorgehaltener Hand, er sei ein «altmodisch-konservativer Kauz». Das wird ihm nicht passieren! Mit seiner neuen, modernen theologischen Sicht wird er die Zuhörer mit ins Boot holen und gleichzeitig die Statements des letzten Predigers entkräften. Schnell findet er das Thema seiner Botschaft: «Die neue Auffassung». Das Publikum wird dies sehr begrüssen, dessen ist er sich sicher.

Ausgedient

Er benötigt nur noch eine Bibelstelle. Als Grundlage des sonntäglichen Morgengottesdienstes ist es üblich, wenigstens einen Bibelvers zu benutzen. Schliesslich wählt er den Vers 19 aus der Apostelgeschichte 17: «Und sie ergriffen ihn, führten ihn zum Areopag und sagten: Können wir erfahren, was diese neue Lehre ist, von der du redest?»

Eine gute Wahl, beglückwünscht sich der Professor selbst. Sie bietet ihm auch noch Gelegenheit, etwas von seinen Kenntnissen in griechischer Geschichte und Literatur einfliessen zu lassen. Flüssig beginnt er über den Areopag, den Mars-Hügel und die griechische Philosophie zu schreiben und übertitelt ihn mit «Die alte Auffassung».

Er führt aus, dass es in religiösen Dingen eine alte Auffassung gibt, die im Licht der heutigen wissenschaftlichen Forschung nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Was einst unsere Väter glaubten, ist längst überholt. Würden die grossen Theologen der Vergangenheit jetzt leben, würden auch sie ihre Überzeugungen verwerfen und sich der modernen Auffassung anschliessen. Doch was genau ist diese alte Auffassung? Hier bietet sich ihm die Chance, die Aussagen des vorigen Predigers zu dementieren. Der Glaube an ein unfehlbares Buch ist lächerlich. In dieser Welt ist nichts unfehlbar. Unfehlbarkeit würde den totalen Stillstand jeglichen Fortschritts bedeuten. Es gab weder jemals eine unfehlbare Wahrheit noch eine unfehlbare Person. Auch Christus nicht, auch er machte Fehler.

Als Nächstes, überlegt der Professor, wird er den unwissenschaftlichen Glauben an eine Jungfrauengeburt beleuchten, die letztlich nichts als eine Legende ist, ohne jeglichen historischen Beweis. Kein vernünftiger Mensch zweifelt, so würde er argumentieren, dass Jesus, der gestorben ist, heute nicht als Auferstandener lebt, sondern nur in seinen Lehren, seinem Charakter, seiner Menschheit, seiner Führerschaft und seinem Beispiel. Die alte Auffassung von einer Existenz nach dem Tod, von einem Himmel und einer Hölle (er streicht das Wort «Hölle» durch und ersetzt es durch «einen Ort der Bestrafung») ist der nächste Punkt. Auch der Glaube daran wird von der grossen Masse als unsinnig gebrandmarkt und verworfen. Dass es ein Weiterleben nach dem Tod gibt, möchte man nicht ausschliessen, aber sicher nicht in der Form, wie es in der Bibel steht. Genaues darüber kann niemand wissen.

Damit leitet er über zum zweiten Teil seiner Predigt: «Die neue Auffassung». Wie die Athener damals sind wir immer noch auf der Suche und jetzt auf der richtigen Spur. Einleuchtend, wie ihm scheint, zieht er Schlüsse und entwickelt die verschiedenen Phasen der evolutionären Theologie des Modernismus ...

Die Not klopft an

Caroline, seine Tochter, ist schwer erkrankt. Das Fieber hält die ganze Nacht an, während Vater und Mutter ängstlich an ihrem Bett wachen. Die Stunden verstreichen, es will und will nicht besser werden. Der Professor geht in sein Studierzimmer und fällt auf die Knie. Leise weint er. «O Gott, wenn du Gebete hörst, dann rette mein Kind, mein einziges Kind, meine Caroline.»

Endlich ist es Morgen und der Doktor schaut wieder nach dem Mädchen. Ihr Zustand hat sich weiter verschlechtert. Sie atmet schnell. Manchmal murmelt sie in ihrem Delirium: «Papa, den Hügel hinauf.» Der Arzt schaut ernst drein. Er bleibt. Tiefe Ohnmacht und Angst erfassen den Professor, der in sein Studierzimmer flüchtet. Beten will er, er kann aber nicht.

(Artikelauszug aus ethos 03/2018)