Schon Adam und Eva träumten von einem Leben ohne Zwänge und grenzenloser Freiheit – mit fatalen Folgen – bis heute.
Nicola Vollkommer
4. März 2019

«Defizitäres Verhältnis zu einer Autoritätsperson, die seinen Anvertrauten Verbote ausspricht, die diese nicht nachvollziehen können. Gestörte Kommunikationswege zwischen dem Erziehungsberechtigten und den ihm Anvertrauten. So die Diagnose, laut deiner Aussage ... Richtig, Eva?»

«Ja, richtig. Gott war gemein. Es war eine Banalität, nicht der Rede wert. Irgendeinen Tick hat er mit diesem doofen Baum. Setzte uns gleich vor die Tür. Nur weil wir einmal hinlangten.»

«Aber in meinem Protokoll ist die Rede von täglichen, vertrauten Spaziergängen im Garten. Er muss euch wichtige Verhaltensregeln gegeben haben, auch bezüglich des Baums, denen ihr fröhlich zugestimmt habt. Wir müssen bei den Fakten bleiben, Eva.»

«Pfui Fakten. Hier geht es um meine Wahrnehmung. Ich fühlte mich benachteiligt. Er behält für sich Privilegien, die er mit uns nicht teilt. Das hat mich tief verletzt. Mir blieb nichts anderes übrig, als mir selber zu helfen! Er hat mich quasi dazu gezwungen.»

«Davon steht hier nichts im Protokoll, Eva. Wir müssen bei der Wahrheit bleiben.»

«Ja, ja, Sie mit Ihrer Wahrheit. Hier geht es um meine Wahrheit, Herr Berater. Wie rückständig sind Sie denn? Die Wahrheit gibt es nicht. Und übrigens, Adam hat mitgemacht. Wäre es so wichtig gewesen, hätte er was gesagt.»


So oder ähnlich hätte ein Beratungsgespräch mit einer modernen Eva laufen können. Die Überzeugung, dass jeder Mensch seine «persönliche» Wahrheit finden muss, ist so alt wie der Mensch selber: der Traum von einem Leben ohne Zwänge, ohne Fremdbestimmung, die Aussicht auf grenzenlose Freiheit. So alt wie die Menschheit selber ist auch der gähnende Abgrund, der sich auftut, wenn der Mensch sich von dem Gott abseilt, der ihn geschaffen hat. Wie auch der fatale Trugschluss, dass ein Leben ohne Gott irgendetwas mit Freiheit zu tun hat. Eines haben Adam und Eva zu ihrem Leidwesen entdecken müssen: Es gibt in dieser Welt keinen herrschaftsfreien Raum. Wenn der rechtmässige Herr den Chefsessel räumt, melden sich prompt die Ansprüche anderer Herren. Der Seefahrer, der seinen Kompass über Bord wirft, ist zwar von einem von aus-sen aufgezwungenen Lenkungssystem «frei», aber sein Schiff bewegt sich weiter – die Frage ist nur, wohin.

Die grosse Lüge

«Hat Gott wirklich gesagt, von allen Bäumen des Gartens dürft ihr nicht essen?» (1. Mose 3,1). So lautet die erste Lüge der Weltgeschichte. Ein raffinierter Schachzug des gierigen Eindringlings in den Garten Eden. Nein, Gott hatte es nicht so gesagt. Nur von dem einen Baum durften sie nicht essen. Mit schlauem Kalkül verdreht die Schlange die Worte in Gottes Mund und vermittelt das Bild eines gemeinen und unbarmherzigen Herrschers. Kein Frontalangriff auf die Anweisungen Gottes, nur ein leises, gut gezieltes Misstrauensvotum, ein verlockender Appell an das tief sitzende Unabhängigkeitsstreben eines als autonom geschaffenen Wesens. Die Lüge endet mit dem Versprechen: «Ihr werdet sein wie Gott.» Mit anderen Worten: «Schmiedet doch eure eigene Wahrheit. Der Schöpfer meint es nicht gut mit euch.»

Durch die Zeiten hindurch tritt diese Lüge in unzähligen Verkleidungen und unter verschiedenen Namen immer wieder in Erscheinung. Im Alten Testament treffen wir auf Astarte, die kanaanitische Göttin der Fruchtbarkeit, deren Standbilder mit ihren nackten Brüsten König Salomos heidnische Frauen mit im Gepäck haben (1. Kön. 11,5). Baal, der Sonnengott Kanaans, übt schon beim Durchzug durch die Wüste eine magische Anziehungskraft auf das Volk Gottes aus. Er ist für Kultprostitution und Menschenopfer zuständig. Königin Isebel bevölkert Israel zu ihrer Zeit mit seinen Priestern. Dann gibt es Dagon, den Gott der Philister, ein Umweltgott, zuständig für Wasser und Getreide (1. Sam. 5,1–5). Vor einem Gott namens Moloch warnt Gott sein Volk immer wieder (3. Mose 18,21). Er hat eine Vorliebe für die Leichen von kleinen Kindern. Wer keinen Geschmack für institutionelle Religion hatte, schafft sich «Teraphim» an, personalisierte Familiengötzen, so etwas wie Talismane oder Glücksbringer (1. Sam. 19,13), besonders in der Zeit der Richter, in der «jeder tat, was recht war in seinen Augen». Ausserdem gibt es Götter zum Selberherstellen aus Holz und Stein (5. Mose 4,28), auch aus Gold und Silber – so wie ein «do-it-yourself»-Bastelkitt. Auf die Dummheit, etwas Lebloses und von Menschenhand Gemachtes anzubeten, weist uns u. a. Psalm 115 hin.

Diese Götter haben eines gemeinsam: Sie sind hartnäckige Verkäufer der ursprünglichen Lüge: «Gott ist nicht vertrauenswürdig. Probiert es lieber mit uns». Sie zielen mit voller Wucht auf die Sehnsüchte der von Sünde erkrankten menschlichen Seele, gaukeln ihren Kunden vor, dass diese erst glücklich sind, wenn ihre Triebe befriedigt werden, ohne dass der lästige Schöpfer ihnen auf die Finger schaut und an ihnen herumnörgelt. Der Verstand wird vernebelt und der Blick für die langfristigen Auswirkungen ihres Treibens versperrt. Man bedient sich an der Gottheit, die das aktuelle Verlangen zu sättigen verspricht. Logisch, dass viele dieser Gottheiten freien Sex mit im Angebot haben. «Sex sells» – auch damals. In Spassgesellschaften, die von hemmungsloser Zügellosigkeit gesteuert sind, interessiert der Begriff «Wahrheit» nicht mehr. Ein objektiver Massstab von «richtig» und «falsch» verliert jede Bedeutung. «Wahr» ist nur das, was dem unmittelbaren Vergnügen dient. «Richtig» ist nur das, was Gier sättigt, auch wenn der eigene und anderer Menschen Untergang damit in Kauf genommen wird. Es entsteht eine «Selfie»-Kultur in Grossformat.

Die Stimme der Vernunft

Die Vernichtungsmaschinerie dieser egoistischen Grundmentalität hinterlässt überall in den biblischen Geschichten, wie auch in der Weltgeschichte insgesamt, ihre blutigen Spuren. Der Grund dafür ist klar. Kaum ein Mensch ist ohne den Druck von Gott gegebenen Werten in der Lage, um des Gemeinwohls willen persönlichen Verzicht in Kauf zu nehmen. Warum soll er denn? «Hat Gott wirklich gesagt ...?» Wenn Gott nicht zuverlässig ist, muss ich doch nach mir selber schauen, oder?

Gottes Antwort auf diese Lüge wird auf zwei steinerne Tafel in zehn kurzen Leitsätzen für Zeit und Ewigkeit gemeisselt (2. Mose 20). «Ihr sollt Gott von ganzem Herzen lieben, keine anderen Götter anbeten ..., ihr sollt nicht töten, ehebrechen, stehlen, begehren, lügen, lästern, Eltern verachten.» Jedes Gebot ist dazu gedacht, dem narzisstischen Aufbegehren eines kranken Herzens einen Hieb zu versetzen und der Menschheit eine Chance aufs Überleben zu geben. Jesus selber fasst das Gesetz Gottes mit den Worten zusammen: «Wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, tut ihnen ebenso!» (Luk. 6,31).

Gefühlte Bedürfnisse müssen einer klaren Verpflichtung Gott und den Mitmenschen gegenüber unterstellt bleiben. Sonst lösen sich alle gemeinsamen Werte auf, die eine Menschengemeinschaft zusammenhalten. Mein Recht, zu tun und zu lassen, was ich will, bedeutet zwangsläufig die Einschränkung der Rechte des anderen. Eine ich-zentrierte Moral ist zwangsläufig eine beliebige Moral, die per Definition keine Moral mehr ist. Der mit der lautesten Stimme bekommt Recht. Der mit den stärksten Muskeln setzt sich durch. Es ist letztlich ein Freibrief für das totalitäre Verfügen der Starken über die Schwachen.

Diener Gottes in der Bibel haben die undankbare Aufgabe, das Volk Gottes an ihre Berufung zu erinnern, in ihrem gemeinsamen Leben ein Schaubild für gelebte Wahrheit zu sein, ein Sprachrohr Gottes in einer gefallenen Welt. Die Weckrufe der Propheten laufen jedoch immer nach dem gleichen Muster. Das Volk ignoriert sie, macht deren Verkündiger mundtot oder bringt sie um. Hin und wieder, wenn eine Schmerzgrenze erreicht ist und das Leben in Lüge nichts mehr mit Spass zu tun hat, kommt das Volk zur Besinnung und fleht Gott um seine Gnade an. Sobald die ersehnte Ruhe wieder eingekehrt ist, wird es wieder träge, kehrt Gott den Rücken zu, und der Kreislauf geht von vorne los.

Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 03/2019.