Warum das Argument der angeblich nur gesellschaftlich bedingten Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen von der Hand zu weisen ist
Dr. med. Matthias Klaus
16. Mai 2023

In der hitzigen Diskussion über die Gegensätze von Mann und Frau ist oft die Rede vom «kleinen biologischen Unterschied». Damit sind die primären Geschlechtsmerkmale gemeint. Aber genau genommen ist dieser offensichtliche Unterschied alles andere als klein. Ein aufmerksamer Blick in den menschlichen Körper widerlegt diese Behauptung: Jede einzelne Körperzelle eines Mannes ist mit XY (männlich) markiert, jede Zelle einer Frau dagegen mit XX (weiblich). Auch das Hormonsystem unterscheidet sich radikal.

Interessanterweise ist selbst das Gehirn kein unbeschriebenes Blatt, das lediglich durch Erziehung und andere Einflüsse geschlechtsspezifisch geprägt wird. Im Gegenteil: Ein Baby kommt bereits mit einem typisch männlichen oder weiblichen Gehirn zur Welt.

Drei Pubertätsphasen

Bereits während der Embryonalentwicklung kommen – gesteuert durch die DNA – geschlechtsspezifische Hormone ins Spiel. Sie bewirken beim Jungen in zwei Schüben eine typisch männliche Ausprägung: In der 10. bis 24. Schwangerschaftswoche und etwa ab der Mitte der Schwangerschaft bis zum sechsten Lebensmonat. In diesen Phasen ist der Testosteronspiegel stark erhöht (z. T. 15-fache Testosteronkonzentration im Serum im Vergleich zu gleichaltrigen Mädchen). Diese Spitzenwerte führen dazu, dass sich – neben vielen anderen Strukturen – auch das Gehirn geschlechtsspezifisch männlich ausbildet.

Bei Mädchen führt das Fehlen des hohen Testosteronspiegels in diesen sensi­blen Entwicklungsphasen zu einer klassisch weiblichen Gehirnentwicklung. Hier hat also noch keine Erziehung in diese Prozesse eingegriffen, allein diese Gehirnentwicklung hat schon einen grossen Einfluss. Mit anderen Worten: Wenn Jungen lieber mit Autos und Mädchen lieber mit Puppen spielen, dann liegt das daran, dass ihre Gehirne so verdrahtet sind und nicht, dass ihre Eltern sie dazu zwingen oder ihnen diese Spielzeuge bevorzugt anbieten. Das Gehirn von Mädchen verfügt über ausgeprägtere Areale für die Gesichtserkennung, was zu einer Vorliebe für Spielzeug wie Puppen führt. Bei Jungen ist es die Vereinseitigung (Lateralisierung) der Gehirnhälften, wodurch eine stärkere Ausprägung der räumlich-visuellen Fähigkeiten entsteht. Dies hat zur Folge, dass bewegliche Objekte, wie zum Beispiel Spielzeugautos, schnell ihre Aufmerksamkeit erregen.

Die dritte «klassische» Phase der Pubertät schliesslich, die zwischen dem 9. und 14. Lebensjahr liegt, geht mit grossen Veränderungen des Gehirns (vor allem des Präfrontalhirns) einher, was Entscheidungen, Begründungen, Planungen, Kontrolle von Impulsen, Verstehen von langfristigen Entscheidungen etc. beeinflusst.
 
Wie gross ist der Unterschied?

In der Diskussion um neurologische Unterschiede werden häufig Ausnahmen als Gegenbeweis für die Geschlechtsspezifität des Gehirns angeführt. Die neurowissenschaftliche Untersuchung der unterschiedlichen Verdrahtung zielt jedoch – wie in der Wissenschaft üblich – auf eine statistische Mittelung von Männern und Frauen ab. Der durchschnittliche Mann unterscheidet sich also auch neurowissenschaftlich signifikant von der durchschnittlichen Frau. Ausnahmen widerlegen diese Tatsache nicht, sondern sind statistisch vielmehr zu erwarten.

Ein Bereich des Gehirns ist in seiner anatomischen Struktur schon früh als besonders geschlechtstypisch aufgefallen: der Hypothalamus. Diese kleine Hirnregion unterscheidet Männer und Frauen besonders stark. Makroanatomisch wird dies an einem bestimmten Kern (Ansammlung von Hirnzellkörpern) innerhalb des Hypothalamus sichtbar: dem geschlechtsdimorphen Kern (SDN). Frauen haben in diesem Kern weniger Nervenzellen sowie ein geringeres Volumen pro Zelle, Männer dagegen sowohl mehr Zellen als auch ein etwa doppelt so grosses Volumen pro Zelle. Die unterschiedliche anatomische Struktur des Hypothalamus spiegelt die geschlechtsspezifischen Funktionen wider, zu denen unter anderem folgende gehören: Regulation von Tag- und Nachtrhythmus, Hunger- und Durstgefühl, Blutdruckregulation, sexuelle Erregung und vieles mehr.

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