«Er machte sich selbst zu nichts und nahm Knechts-gestalt an, indem er den Menschen gleich geworden ist … erniedrigte er sich selbst und wurde gehorsam bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz.» (Philipper 2,7–8)
Nicola Vollkommer
19. Mai 2017

Ich glaube von ganzem Herzen an Wunder. Wo ich nur hinschaue, sehe ich sie. In der bunten Pracht der Krokusse, die in meinem Garten blühen, in der Geburt eines Kindes, in der Farbenidylle einer untergehenden Sonne. Dass Jesus Menschen heilte, vom Tod auferweckte, Wasser in Wein verwandelte, auf dem Wasser ging, stand für mich nie zur Debatte. Der, der die Elemente schuf, kann sie auch wiederherstellen.

Obwohl das sichtbare Wirken Gottes ein unbändiges Staunen in mir auslöst, ist sein Charakter, nicht sein Wirken, das, was meine Liebe erweckt. Der Schöpfer, der meine Krokusse machte, «machte sich selbst zu nichts». Der Herrscher, der Wasser in Wein verwandelte, wurde zum Knecht. Der Ursprung allen Lebens, der ein Baby im Leib seiner Mutter bilden kann, liess sich töten. Es gab eine Sache, die ihm wichtiger war als alles, was sein Herrscherstatus ihm an Macht und Prestige verlieh: mein und dein Wohlergehen. Das ist das grösste aller Wunder. Das ist der Gott, den sich kein Mensch ausdenken kann. Menschen schaffen ihre Götter nach ihrem Ebenbild: machtgierig, unberechenbar, grausam, fordernd. Logisch – genau wie ihre Erfinder. Nur der Eine, der Wahre, passt nicht in diesen Raster.

Kompromisslos in seiner Heiligkeit, bedingungslos in seiner Liebe: zwei Züge von Gottes Wesen, die von Grund auf unvereinbar sind. An einem trüben Jerusalemer Freitagnachmittag während der römischen Besat-zung unter Pontius Pilatus wird das Dilemma auf dramatische Weise gelöst. In seiner Heiligkeit verkündet Gott dem Sünder das gerechte Urteil («der Lohn der Sünde ist der Tod», Röm. 6,23). In seiner Liebe nimmt er in einem verblüffenden Akt der Selbstaufopferung die Konsequenzen dieses Urteils auf sich («Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab», Joh. 3,16). Golgatha lässt grüs-sen, der grösste Absturz aller Zeiten. In der englischen Übersetzung von Philipper 2,7 heisst es: «He emptied Himself» – «er entleerte sich.» Der Gott, der uns lebendiges Wasser darreicht, schreit: «Ich dürste.» Das Licht der Welt umhüllt sich mit Finsternis. Das lebendige Brot bekommt als Nahrung einen staubigen Schwamm mit Essig getränkt. Die «Auferstehung und das Leben» wird brutal ermordet.

(Artikelauszug aus ethos 05/2017)