Herausforderungen und Chancen der zweiten Lebenshälfte
Dr. Wolfgang Vreemann
23. März 2022

Es lässt sich nicht leugnen: Mit 76 Jahren bin ich schon längst in der zweiten (oder besser gesagt: letzten) Hälfte meines Lebens angekommen. Deshalb nehme ich mir das Recht heraus, einen Augenblick stillzustehen und zurückzuschauen – und ich behaupte, zu dem Thema «Lebensmitte» einiges aus eigener Erfahrung sagen zu können.

Allerdings ist Vorsicht geboten: Ich darf meine eigenen Erlebnisse und Gefühle nicht zum Massstab für alle machen. Jeder Mensch ist ein einzigartiges, individuelles Exemplar aus der Schöpfungswerkstatt Gottes, und genauso individuell und einmalig erlebt jeder seine eigenen Lebensphasen. Trotzdem gibt es gewisse Phänomene, die bei fast allen Menschen in ähnlicher Form zu beobachten sind. Letztendlich tickt die Lebensuhr für jeden von uns gleich schnell.

Was bedeutet denn in diesem Zusammenhang überhaupt der «Zenit» des Lebens? Der Begriff kommt ursprünglich aus dem Arabischen und bezeichnet den Scheitelpunkt (höchsten Punkt) des Himmelsgewölbes; im übertragenen Sinn ist es also die Lebensphase mit der grössten Schaffenskraft, den meisten Erfolgen, der höchsten Leistungsfähigkeit. Ob damit auch ein Höhepunkt des Lebens erreicht ist, sei mal dahingestellt. Dieser Zeitpunkt ist bei jedem Menschen – je nach Tätigkeit – sehr unterschiedlich: Der Fussballprofi hat seinen «Zenit» zwischen 25 und 30 Jahren, der Geisteswissenschaftler oft erst mit 60 oder 70. Wenn man nun rein biologische Alterungsprozesse betrachtet, dann landen wir für die meisten Menschen bei einem Lebensalter zwischen 40 und 50 Jahren. Um diese Zeit herum beginnt im Allgemeinen die sogenannte zweite Lebenshälfte, und darum geht es in diesem Artikel.

Übrigens: Den Zenit des Lebens spürt man nicht! Da gibt es keine rote LED und keinen Klingelton, der den Gipfelpunkt einläutet. Manche merken erst viel später, oft 10, manchmal erst 15 Jahre danach, dass irgendwann in der Vergangenheit die Leistungskurve einen Knick nach unten bekam. Wenn man sich also darauf einstellen und dafür vorbeugen will, muss man schon mal in den Kalender schauen oder sich von den Enkeln nach dem Alter fragen lassen, um sich bewusst zu machen, wo der Zeiger der Lebensuhr steht. Diesen Fehler beging ich nämlich selbst: Mit Volldampf arbeitete ich weiter, bis mein himmlischer Vater nach meinem 60. Geburtstag die Notbremse zog und mich aufs Krankenlager warf. Als mir vor einigen Jahren meine alten, «analogen» Terminkalender in die Hände fielen, meinte ich voll Erstaunen zu meiner Frau: «Ich weiss gar nicht, wie ich das damals alles geschafft habe!» Ihre Antwort war: «Ich habe dir ja schon immer gesagt, du machst zu viel!» Ich fürchte, sie hatte Recht. Mein Zenit war unbemerkt an mir vorbeigerauscht.

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