Von der Motivation, in Beziehungen zu investieren, um sie dann wieder loszulassen. Im Gespräch mit Rosemarie Weigel.
Daniela Wagner
20. Mai 2021

Sie und Ihr Mann sind Bereitschaftspflegeeltern. Wie kam es dazu?

Rosemarie Weigel: Vor etwa sieben Jahren sind wir da einfach reingeschlittert; ich wurde von einer Frau in
unserer christlichen Gemeinde angesprochen. Sie arbeitete bei einem Träger der Kinder- und Jugendhilfe, der einen Engpass hatte. Für eine junge, schwangere Mutter wurde eine Bleibe gesucht, weil das Mutter-Kind-Haus, in das sie eigentlich untergebracht werden sollte, renoviert wurde. Nach dieser ersten Anfrage kam dann eine zweite: Sie wollten wissen, ob wir grundsätzlich als Bereitschaftspflegeeltern zur Verfügung stehen würden. Mein Mann und ich überlegten: Genug Platz hatten wir, mit Kindern konnten wir schon immer gut umgehen – wir hatten früher auch Jungschar und Kinderstunde geleitet – und die eigenen drei Kinder waren ja inzwischen erwachsen und wohnten nicht mehr bei uns. So sagten wir zu.

Vielleicht vorneweg eine Begriffserklärung: Was versteht man unter Bereitschaftspflegeeltern?

Da ist irgendwo ein Notfall und das Jugendamt muss einschreiten: Ein Kind wird misshandelt, steckt im Dreck. Das Amt ruft darauf bei verschiedenen Trägern an und fragt nach einem freien Platz für beispielsweise ein dreijähriges, traumatisiertes Kind ... Nun wird abgeklärt, welche Familien gerade belegt und welche frei sind, anschliessend wird man angerufen. Das kann auch nachts um zwölf Uhr sein. Man behält dann das Kind bei sich, bis die Dinge geklärt sind. Eigentlich heisst Bereitschaft, dass die Eltern nie länger als drei Monate die Pflege übernehmen. Ist aber die Sache danach noch nicht erledigt und geht zum Beispiel vors Gericht, dauert es weit länger. Dieses Kind müsste dann eigentlich in die nächste Bereitschaftspflegefamilie und von da aus in die Langzeitpflegefamilie oder ins Heim. Wir haben jedoch gesagt, dass die Kinder so lange bei uns bleiben sollen, bis klar ist, wo sie hin können. Denn nach drei-, vier- oder fünfmal Herumreichen gehen sie daran kaputt und sind überzeugt: Ich bin nichts wert.

Deshalb sind die Kinder schon mal eineinhalb Jahre bei uns. Der dreijährige S., den wir jetzt hier haben, wohnt auch schon ein Jahr mit uns. Er war so verwahrlost und hat in einer zugemüllten Wohnung gelebt, wo kein Platz zum Laufen war. So ist er zu einem regelrechten Kletteräffchen geworden. Die Mutter war einverstanden mit der Inobhutnahme, sie ist weggezogen und sucht auch keinen Kontakt. Das Ziel ist, für ihn eine Pflegefamilie zu finden. Wenn das nicht klappt, kommt er in ein Heim.

Für die Kinderaufnahme konnten wir «Wünsche» angeben: Wir haben uns für kleinere Kinder entschieden, denn mit ihnen kommen wir gut klar und sie lieben unsere Enkel. Als Langzeitpflegeeltern wären wir schlicht zu alt.

Sie haben es schon angesprochen; in welchem Zustand kommen die Kleinen bei Ihnen an?

Ganz schlimm! Und teilweise erfahre ich durch die Kinder Dinge, die wollte ich eigentlich gar nicht wissen. Manchmal sass ich da und fragte mich: Warum hast du das nur angefangen?

Wie kommt ihr damit klar?

Grundsätzlich gut, weil wir uns das ja nicht ausgesucht haben – Gott hat uns diese Aufgabe vor die Füsse gelegt: «Mit meiner Hilfe könnt ihr das.» Eigentlich grenzt es an ein Wunder. Der Träger, dem die Kinder auch sehr am Herzen liegen, hat gute Erfahrungen mit uns gemacht; wir bekommen nur noch die extrem schwierigen Kinder zugewiesen. Wenn man dann aber merkt, wie die Kinder lernen: Ich bin ja wer! Mich mag jemand! Mit mir redet einer, spielt einer – das ist einfach toll. Dann hat sich der Kraftakt mehr als gelohnt.

Unser kleiner S. war zwei Jahre alt, als er zu uns kam, konnte nicht sprechen, ass mit den Händen und alles, was er nicht mochte, schmiss er auf den Boden – das war er so gewohnt. Er kannte auch keine Hasen, keinen Vogel, keinen Spielplatz; er kam mir vor wie Mogli aus dem Urwald. Heute spricht er lange Sätze, kennt Spielplätze und alle gängigen Tiere – das ist so schön zu sehen, wie sich ein Kind verändert und alles wie einen Schwamm aufsaugt

Wir und die Kinder sind in unserer christlichen Gemeinde eingebettet, deshalb geht es uns gut. Sonntags sind wir mit S. dort, er wird wahrgenommen und gehätschelt. Und man weiss um unsere Anliegen.

Sie sind überzeugte Christen. Werden Ihnen von Seiten der Ämter in Bezug auf Ihren Glauben keine Auflagen gemacht?

Bisher hat niemand was dagegen gehabt. Es gibt gewisse Rechte: Bereitschaftseltern müssen nicht ihren ganzen Lebensstil aufgeben, wir dürfen in den Gottesdienst gehen und ihn mitnehmen. Abends beten wir mit den Kindern, vor dem Essen sprechen wir ein Tischgebet, wir betrachten zusammen Bilderbücher, und natürlich erzähle ich ihnen auch viel von Jesus.

Die Kinder, die wir bekommen, kennen keine festen Strukturen. Dem Träger ist es wichtig, dass sie Rituale kennenlernen, die ihnen einen Rahmen, eine Orientierung geben. Wir haben den Verantwortlichen offen erzählt, wie die Rituale bei uns aussehen.

Wie viele Kinder haben bei Ihnen im Laufe der Jahre ein Zuhause auf Zeit gehabt?

S. ist mittlerweile das 15. Kind in sieben Jahren. Das erste, das zu uns kam, war ein zehnjähriges Mädchen. Sie hat die volle Breitseite abbekommen: wurde missbraucht, in den Keller gesperrt ...

Lesen Sie das ganze Interview in ethos 05/2021.