Sagen wir etwas anderes, als wir denken, oder geben etwas vor, was nicht ist? Sind wir echt, authentisch – ganz wahr? Ich bezweifle es. Tief in uns sitzt die Neigung, uns besser darzustellen, als wir sind. Authentisch zu leben fällt uns schwer, weil wir befürchten, von Menschen abgelehnt zu werden.
Yvonne Schwengeler
1. Februar 2017

Du sollst nicht lügen.» Das ist die klare Ansage Gottes, die jahrhundertelang als Tugend galt und in der Gesellschaft Akzeptanz fand. Auch wenn ich nicht in einem christlichen Elternhaus aufgewachsen bin, existierten in meiner Kindheit doch Leitplanken, die das Leben in einer guten Weise regelten. Da galt unter anderem: Lügen, das tut man nicht. Die Unwahrheit zu sagen war ehrenrührig und schambehaftet.

Was für ein Unterschied zu heute! Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit sind zum Auslaufmodell geworden. In Politik und Wirtschaft herrschen Intrigen und Korruption, und auch im persönlichen Zusammenleben feiert die Lüge ihre Triumphe.

Nicht das Lügen gilt als schändlich, sondern wer so dumm ist, sich dabei erwischen zu lassen. Ohne Scham treten Politiker, die der Lüge überführt werden, schon anderntags wieder an die Öffentlichkeit. Dumm gelaufen, was soll’s! Nun möchte ich damit nicht sagen, früher sei nicht gelogen worden. Aber im Gegensatz zu heute schämte man sich dafür.

Es steht nicht gut um die Ethik in der westlichen Gesellschaft. Was lange Zeit als selbstverständlich galt, ist heute vielerorts verloren gegangen.

Das jüdisch-christliche Ethos – die Zehn Gebote und das Doppelgebot der Liebe im Neuen Testament – prägte über Jahrhunderte das Leben in Europa. Diese moralische Grundlage gab dem Zusammenleben Stabilität und Sicherheit. In ländlichen Gegenden besiegelte ein Handschlag eine Vereinbarung. Man konnte sich auf ein gegebenes Wort verlassen. Und heute? Man verspricht ohne Hemmungen, was man nie gedenkt, einzulösen. Der Verlust an Vertrauen führt zu Misstrauen und Verunsicherung. Und das ist nicht zu unterschätzen. Vertrauensverlust führt zwangsläufig zu mehr Kontrolle. Man muss sich überall absichern mit endlosen Verträgen und dem besonderen Fokus auf das Kleingedruckte. Es geht nach dem Motto: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.

«Geistig ausgezehrt, vulgär und von politischer Korrektheit gelähmt, steuert die westliche Zivilisation auf den Abgrund zu», das ist das Fazit, das der britische Arzt und Schriftsteller Dalrymple in seinem Buch «Der Untergang Europas» zieht. Das Zeitalter der westlichen Welt geht hauptsächlich deswegen zu Ende, weil es ihr an sinnstiftenden Werten mangelt.

Ich bin überzeugt, dass Werte nur auf einer Glaubensgrundlage überleben können. So steht denn über den Zehn Geboten die Zusage Gottes: «Ich bin der Herr, dein Gott.» Diese Überschrift, schreibt Stefan Holthaus, «ist die Basis aller Gebote, die Verheissung, die über allen Forderungen steht. Wenn Gott unser Herr ist, d. h. wenn es zu einer Beziehung zwischen ihm und uns gekommen ist, dann gelten auch seine Gebote. Die Beziehung des Menschen zu Gott ist die Voraussetzung eines neuen Lebensstils. Wer Gott als seinen Befreier erlebt hat, für den sind seine Gebote dann auch keine Belästigung, sondern Hilfe zum Leben, gegeben zum Wohl des Einzelnen und einer ganzen Nation.»


Gott spricht Klartext

Ich soll niemanden belügen, kein falsches Zeugnis über mich oder andere geben. Das beinhaltet auch verborgene Lügen: etwas anderes zu denken, als zu sagen, oder etwas vorzugeben, das man nicht ist. Entspricht das der Realität? Sind wir Christen so – so ganz wahr? Echt, authentisch? Ich bezweifle es.

Wie viel Unwahrhaftigkeit, Verschleierung, wie viele Halbwahrheiten oder Notlügen finden sich auch in unseren Reihen! Tief in uns sitzt die Neigung, unsere Schwächen und Sünden zu verbergen und uns besser darzustellen, als wir sind.

Es ist der Stolz, der uns dazu bringt, unsere Risse zuzukleistern und die Fassade aufrechtzuerhalten, weil wir Angst haben, uns so zu zeigen, wie wir sind. Denn wir lechzen nach Annahme, Ansehen und Bedeutung.

Authentisch zu leben fällt uns schwer, weil wir befürchten, von Menschen abgelehnt zu werden. Furcht ist der Feind der Transparenz. Wir müssen bereit sein, unsere Masken abzulegen und der Wahrheit über uns selbst in die Augen zu sehen. Billy Graham sagte einmal, das grösste Hindernis zu unserer Heiligung sei unsere mangelnde Bereitschaft, uns als das zu sehen, was wir wirklich sind.

Nicht nur unser Reden, auch unser Beten wird oft durch Unwahrheit entwertet. Vieles, das so fromm klingt, sind inhaltsleere Worthülsen, ist nichts anderes als Schauspielerei. Schlimm wird die Sprache Kanaans, wenn sie der Tarnung dient. Kam da ein als sehr kirchlich bekannter Mann viel zu spät zur Konfirmation seines Patensohnes. Noch in Hut und Mantel stürzte er ins Zimmer und rief: «Wir haben ihn auf betendem Herzen getragen!» Eine Minute später folgte ihm seine Frau, die im Flur erst abgelegt hatte. «Ach, Kinder», rief sie, «wir hatten die Sache doch total vergessen.»

Es sollte für Christen eine Selbstverständlichkeit sein, die Wahrheit zu sagen. Vor Gott können wir nicht nur wahr sein, wir müssen es! Ehrlichkeit und Echtheit gehören zum christlichen Glauben. Jesus Christus, das Haupt der Gemeinde, hat von sich gesagt: «Ich bin die Wahrheit.» Satan, sein Gegenspieler, ist der Vater der Lüge. Es liegt in seinem Interesse, dass der Mensch mit den Abgründen seines Herzens im Dunkeln bleibt. Denn Unwahrhaftigkeit schafft eine Distanz zu Gott und wirkt zerstörerisch.

Die Lüge versklavt, die Wahrheit macht frei. Gott ist Licht, und in ihm ist gar keine Finsternis. Deshalb ist das Bekennen der Schuld der erste Schritt zur Gotteskindschaft und die Voraussetzung dafür, dass wir Vergebung erfahren können.

Was für ein grossartiges Angebot: Ich darf vor Gott ganz wahr werden, darf so zu ihm kommen, wie ich bin. Ich werde nicht verurteilt, sondern freigesprochen, da Gottes Sohn selbst bezahlt hat für meine Schuld. Aber das andere ist auch wahr: Ich muss nicht bleiben, wie ich bin!

(Artikelauszug aus ethos 2/2017)