Depressionen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Auch Christen sind davon nicht ausgenommen. Wann ist ärztliche Hilfe unumgänglich? Wie soll das Umfeld reagieren? Was kann der Betroffene selber zur Gesundung beitragen? Wann macht Glaube krank? ethos hat mit Dr. Martin Steinbach, Facharzt für Innere Medizin, Psychosomatik und Psychotherapie, über diese und weitere Fragen gesprochen.
Daniela Wagner
12. November 2017


Eine einseitige und eingeengte Betrachtungs- und Behandlungsweise kranker Menschen kann schädlich sein. Der Mensch ist eine Einheit aus Geist, Seele und Leib, geprägt von seinen Anlagen und dem sozialen Umfeld. Jesus handelte, lehrte und heilte ganzheitlich. Er sah den
seelischen Hintergrund bei körperlichem Leiden und umgekehrt. Er «durchschaute» die Menschen. Sie erschraken und hatten gleichzeitig Vertrauen zu ihm. Seelsorger, Mitarbeiter Gottes, müssen geschliffen werden wie Edelsteine – auch sie brauchen Seelsorge an sich selbst und ständige fachliche Weiterbildung.

 

Dr. Steinbach, wie kam es, dass Sie sich als Vollblut-Internist entschlossen haben, noch den Facharzt für Psychotherapie zu machen?
Dr. Martin Steinbach: Ja, ich liebte meine Tätigkeit als Internist, legte Herzschrittmacher, machte Darmspiegelungen, usw. Das hat mich alles interessiert, aber ich merkte bald, dass etwa 50 % der Patienten, die mit körperlichen Beschwerden eingeliefert wurden (Verdacht auf Herzinfarkt, Magengeschwür u. a.), nach gründlicher Untersuchung keine organischen Schäden aufwiesen, obwohl ihre Beschwerden zu 100 % denen des Krankheits-Verdachtsbildes entsprachen. Darauf wurden die Patienten nach Hause geschickt mit der Diagnose: «Ihnen fehlt nichts.»

Diese vielen Patienten mit funktionellen Störungen haben mich interessiert. Sie werden weder vom Internisten noch vom Psychiater ernst genommen. Der Psychiater möchte eine Schizophrenie behandeln oder eine richtig schwere Depression, aber solche «leichten» Fälle, wo jemand nur Herzbeschwerden hat, im EKG aber alles in Ordnung ist, interessieren ihn nicht. Dies ist das Gebiet der Psychosomatik, wo der Zusammenhang zwischen Seele und Leib untersucht und behandelt wird. Hierzu braucht es besondere Techniken: Gesprächsführung, Behandlung ohne Medikamente durch Gespräche oder Musik-, Gestaltungs- und Familientherapie. Ich wollte lernen, welche innere Not zu bestimmten Körperbeschwerden führen kann, wollte ergründen, wo das Problem liegt und wie man es überwinden kann. Da muss der Patient jedoch mitarbeiten. Er kann sich nicht wie bei einem chirurgischen Eingriff hinlegen, dann betäubt und operiert werden – ganz ohne sein Dazutun. Die Aufgabe ist, den Patienten ein Stück weit zu lenken, ihm zu helfen, dass er die richtigen Schritte macht, um dann gesund zu werden.

Deshalb machte ich meinen zweiten Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie. Ich baute eine Abteilung dieser Art auf und wurde schliesslich Ärztlicher Direktor des ganzen Krankenhauses mit vier Abteilungen: Sucht, Psychiatrie, Innere Medizin und eine für Psychotherapie und Psychosomatik. Seit acht Jahren bin ich «pensioniert», arbeite aber noch stundenweise in der Ambulanz, mache Sprechstunde bei Menschen mit psychosomatischen Störungen und auch Nachtdienste (Bereitschaftsdienste), d. h. man ruft mich, wenn eine spezielle Frage geklärt werden muss.

 

Ziel Ihrer Arbeit mit Menschen, die psychische Erkrankungen haben, ist also, dass die Patienten wahrnehmen, was die Ursache ihrer Probleme ist, um sie dann anzugehen?
Ganz genau. Wenn ein Patient nicht bereit ist, etwas in seinem Leben zu verändern, wird alles so bleiben, wie es ist, auch seine Symptomatik.

 

Was, wenn der Patient nicht fähig ist, sich zu verändern? Wo braucht er Hilfe, die ausserhalb von ihm liegt?
Er braucht Hilfe. Aber er muss bereit sein, beispielsweise seinen Perfektionismus zu relativieren. Das ist lernbar. Sonst wäre das, was wir machen, sinnlos.

Der Glaube an unseren Schöpfer gehört mit zu unserem seelischen Leben. Menschen ohne einen lebendigen Glauben an Gott haben es viel schwerer. Wenn sie sich ihm nicht öffnen, werden sie wahrscheinlich scheitern.

 

In Ihre Klink kommen sowohl an Gott gläubige wie auch ungläubige Menschen. Da prallen ganz konträre Menschenbilder aufeinander. Konfrontieren Sie die Atheisten mit ihrem Schöpfer? Wenn diese zwar Hilfe für ihr Problem wollen, aber keinen Gott?
Dann müssen sie in eine andere Klinik gehen. Glaube und Therapie gehören bei uns zusammen, man kann es nicht trennen. Wir halten jeden Tag als Erstes eine Andacht. Patienten, die nicht gläubig sind – ungefähr die Hälfte –, sagen manchmal: «Das will ich nicht. Ich will hier nicht zum Christen werden, ich möchte nur meine Krankheits-Symptome bekämpfen.» Darauf antworte ich: «Das gehört zu unserem Programm. Es ist ganz wichtig, dass wir uns nicht nur mit unserem Körper und unserer Seele, sondern auch mit Gott beschäf-tigen. Den Sinn unseres Lebens zu erkennen ist elementar. Den finden wir im Glauben an Jesus. Dann wird vieles von dem klarer, was falsch läuft in einem Leben.»

Ich erinnere mich an eine Patientin, die gleich am ersten Tag forderte, in eine andere Klinik überwiesen zu werden, weil ihr das hier alles viel zu fromm sei. Ich bat sie, mal eine Woche abzuwarten, da wir nicht «nur» Andacht, sondern auch Musiktherapie, Gruppen- und Einzelgespräche und vieles andere machen würden. Ich sagte: «Schauen Sie sich das mal an, vielleicht können Sie doch etwas profitieren.» Sie erklärte sich einverstanden. Nach einer Woche bei der Visite: «Na, Sie sind ja immer noch da!» Darauf die Patientin: «Ich finde das ja komisch mit dem Beten und dem Glauben, aber das andere ist so toll, da möchte ich doch bleiben und nehme es in Kauf.»

Bei ihrer Entlassung, nach zehn Wochen, sassen wir – ca. 40 Leute, Patienten und Therapeuten – in einem Kreis. Jeder sollte sagen, was ihm klar geworden war und was er in Zukunft ändern möchte. Als diese Patientin an der Reihe war, meinte sie: «Als ich hierherkam, empfand ich einen grossen Widerstand gegen ‹das Fromme›, aber mit der Zeit habe ich gemerkt, dass mir das Wesentliche im Leben fehlt. Darauf habe ich mein Leben Jesus übergeben – und jetzt gehe ich als Christ nach Hause.» Vor allen Leuten! Und so ist es bei jeder Entlassung, wenn die Patienten sich erklären müssen: Was habe ich falsch gemacht, was will ich anders machen, was ist mein nächster Schritt – das ist zugleich Unterricht für die anderen. Es sind ja immer auch «Anfänger» dabei, die noch kämpfen. Dadurch kommen auch Menschen zum Glauben. Manche sagten auch, sie hätten erst jetzt gemerkt, wie wichtig es sei, über den Tod, den Sinn des Lebens und über Glaubensfragen nachzudenken.

(Artikelauszug aus ethos 11/2017)