Psychopharmaka werden vor allem von Christen sehr kontrovers beurteilt. Die einen sehen in ihnen einen Segen, die anderen bezeichnen sie als «Teufelszeug», das man auf keinen Fall einnehmen sollte. Dieser Artikel hat das Ziel, Hinweise für ein besseres Verständnis und eine angemessene Beurteilung von Psychopharmaka zu geben. Dabei sollen auch praktische Hinweise für Interessierte und Betroffene nicht zu kurz kommen.
Martin Schumacher
7. November 2023

In diesem ersten Teil werden einige grundsätzliche Fragen erörtert. In einem zweiten Teil geht es darum, die verschiedenen Gruppen von Psychopharmaka vorzustellen und einzeln kritisch im Hinblick auf Nutzen und Risiken zu bewerten.

Psychopharmaka (im Folgenden mit PP abgekürzt) sind ganz allgemein Stoffe (Chemikalien oder Pflanzenextrakte), die eine erwünschte Wirkung auf die Psyche ausüben. In Wikipedia findet sich folgende Definition: «Ein Psychopharmakon (Plural: Psychopharmaka) ist eine psychoaktive Substanz, die als Arzneistoff genutzt wird. Sie beeinflusst die neuronalen Abläufe im Gehirn und bewirkt dadurch eine Veränderung der psychischen Verfassung.» Alle PP sind chemische Substanzen, die als solche völlig wertneutral sind. Die Unterscheidung zwischen ärztlich verordneten PP und «Drogen» (z. B. Heroin, Kokain, Methylamphetamin/Crack) ist aus pharmakologischer Sicht willkürlich und behördlichen Entscheidungen geschuldet. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass aus pharmakologischer Sicht kein prinzipieller Unterschied zwischen Medikamenten (Ritalin®, Attentin® und Elvanse®) zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Rauschdrogen wie Methamphetamin (Meth, Crystal) und Kokain besteht. Auch die altbekannte halluzinogene Rauschdroge Ketamin wird neuerdings zur Behandlung therapieresistenter Depressionen eingesetzt (Ketalar®, Ketanest S®).

Bereits in der Antike benutzte man pflanzliche Substanzen wie Opium, Kokain, Cannabis oder auch Alkohol zur medizinischen Beeinflussung der Psyche. Mit dem Aufkommen der organisch-chemischen Industrie im 19. Jahrhundert wurden ab etwa 1870 die ersten synthetischen PP hergestellt und in der Medizin eingesetzt. In den 30er und 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte man die Psychostimulanzien Amphetamin und Methyphenidat (Ritalin®). Im Jahr 1949 entdeckten Forscher die antimanische Wirkung von Lithiumsalzen. Die beiden Jahrzehnte zwischen 1950 und 1970 werden als «goldenes Zeitalter» der Psychopharmakologie bezeichnet. In diesen Jahren wurde eine ganze Reihe völlig neuer psychoaktiver Wirkstoffe zur Behandlung von Psychosen, Depressionen und Angstzuständen entdeckt, die die therapeutischen Möglichkeiten der Psychiatrie revolutionierten.

Der Einsatz von Substanzen zur Beeinflussung der Psyche hat eine sehr lange Tradition. Seit den 1950er-Jahren, mit der Entdeckung der Neuroleptika, Antidepressiva und Benzodiazepine (z. B. Valium®), hat die Anwendung dieser modernen PP explosionsartig zugenommen. Allerdings wurden in den letzten 50 Jahren keine wirklich neuen PP entwickelt. Vielmehr sind die älteren Präparate den neueren in ihrer Wirksamkeit oft überlegen.

Wie sieht die Verschreibungspraxis von Psychopharmaka aus?

Im Jahr 2021 wurden in der Bundesrepublik Deutschland 2,5 Milliarden Tagesdosen PP verordnet. Gemessen an der Zahl der Verordnungen (Rezepte) in der BRD standen PP im selben Jahr an dritter Stelle. Diese Zahlen weisen auf ein gravierendes Problem hin. Wenn man bedenkt, dass es vor 1950 nur sehr wenige Verordnungen von PP gab (alle wichtigen PP wurden erst später entdeckt und auf den Markt gebracht), wird der rasante Aufstieg dieser Medikamente deutlich. Der Anstieg der Verschreibungszahlen ist bis heute ungebrochen. An der Spitze stehen die Antidepressiva. Die Zahl der Tagesdosen dieser Medikamente hat sich in den letzten 40 Jahren mehr als verzehnfacht!

Wie lässt sich dieser hohe Konsum von PP erklären? Hier spielen mehrere Faktoren eine wichtige Rolle. 1. Mit der Entdeckung der modernen PP und Neurotransmitter (Botenstoffe des Nervensystems) begann der Niedergang des psychodynamischen Verständnisses psychischer Störungen, das davon ausging, dass diese Störungen durch psychische Faktoren verursacht werden, und wurde durch ein biologisches Modell ersetzt. Unter der Annahme, dass biologische Faktoren (z. B. Neurotransmitter-Ungleichgewichte) die eigentliche Ursache psychischer Probleme sind, ist eine Therapie mit chemischen Substanzen, die diese postulierten Ungleichgewichte korrigieren, verständlich. 2. Darüber hinaus wird bei immer mehr Menschen eine psychische Störung diagnostiziert. Die Grenzen zwischen «normal» und «krank» verschwimmen zunehmend, neue Diagnosen kommen hinzu und damit steigt zwangsläufig auch die Zahl der Menschen mit psychischen Störungen.

Früher als normal angesehene Charaktereigenschaften wie Schüchternheit oder Ängstlichkeit und verständliche psychische Reaktionen auf Probleme des Lebens werden heute zunehmend pathologisiert und häufig medikamentös behandelt. Die offiziellen Verzeichnisse psychischer Störungen (ICD-10 und DSM-5) enthalten mittlerweile über 400 verschiedene Einträge. Eine psychische Beeinträchtigung wird in erster Linie durch das Vorliegen mehrerer Symptome definiert. Da die Symptome jedoch nicht spezifisch sind und ein und dasselbe Symptom häufig für mehrere verschiedene Störungen aufgeführt wird, führt dies leicht zu «Multimorbidität», d. h. zur gleichzeitigen Diagnose mehrerer psychischer Störungen, die in der Regel jeweils mit einem anderen Psychopharmakon behandelt werden. So kann es schnell vorkommen, dass eine Person mit den Diagnosen Schizophrenie, Depression und Ängsten drei oder mehr verschiedene PP verschrieben bekommt, obwohl es sich in Wirklichkeit nur um Symptome eines einzigen Problems handelt. Häufig erhalten auch Patienten mit nur einer psychiatrischen Diagnose gleichzeitig mehrere PP. Diese «Polypharmazie» ist ein Merkmal der modernen psychiatrischen Praxis, das es zu vermeiden gilt. 3. Darüber hinaus tragen auch Veränderungen in der modernen Gesellschaft und im persönlichen Lebensstil dazu bei, dass immer mehr Menschen psychische Probleme haben.

Moderne Antidepressiva und Neuroleptika werden nicht mehr nur bei Depressionen oder Psychosen eingesetzt, sondern auch bei ganz anderen Indikationen wie Ängsten, Zwängen, Persönlichkeitsstörungen, Schlafproblemen, Demenz und vielem mehr. Professor Bschor nennt in seinem Buch 20 Gründe für die hohen Verschreibungszahlen von PP, insbesondere von Antidepressiva.

Besonders gefährdete Patientengruppen, bei denen PP eingesetzt werden, sind Kinder, Jugendliche und ältere Menschen. Hier ist Vorsicht und Zurückhaltung geboten.

Hypothesen über die Ursachen psychischer Störungen

Die ersten synthetischen PP wurden alle durch Zufall entdeckt. Die Erforschung der Wirkmechanismen von Antidepressiva und Neuroleptika erhielt durch die Entdeckung der Neurotransmitter einen starken Auftrieb. Bald darauf stellte man erste Hypothesen über die biochemischen Ursachen psychischer Störungen auf. Diese basieren auf den pharmakologischen Wirkmechanismen der PP und gehen davon aus, dass sich dadurch die zugrunde liegende biologische Fehlfunktion der psychischen Störung erklären lässt. Die Serotonin-Hypothese der Depression besagt, die Ursache einer Depression liege in einem Mangel des Neurotransmitters Serotonin im synaptischen Spalt, dem Hohlraum zwischen den Enden zweier Nervenzellen. Andere Forscher haben anstelle eines Serotoninmangels den Mangel eines anderen Neurotransmitters, des Noradrenalins, als Ursache von Depressionen vorgeschlagen.

Die Dopamin-Hypothese der Schizophrenie besagt, dass Schizophrenie durch einen Überschuss (bzw. eine Überaktivität) des Neurotransmitters Dopamin verursacht wird. Diese Hypothesen sind attraktiv, weil sie auf elegante Weise die postulierten Ursachen psychischer Störungen mit deren Behebung oder Korrektur verbinden. Sie werden auch heute noch herangezogen, um Betroffenen und Angehörigen die Ursache ihrer Probleme und die Wirkungsweise von PP zu erklären. Häufig wird ein Vergleich mit der Zuckerkrankheit (Insulinmangel bzw. Insulinresistenz) und deren Behandlung durch Insulinspritzen angeführt. Dort gleicht man einen offensichtlichen Mangel durch die Verabreichung des fehlenden natürlichen Hormons Insulin aus. Ein Vergleich mit den oben genannten Neurotransmitter-Hypothesen ist jedoch nicht zulässig. Was für Diabetes und seine Behandlung gilt, trifft auf psychische Störungen nicht zu.

Depression: Das Märchen vom Serotoninmangel

Es gibt eine ganze Reihe von Beobachtungen und Fakten, die den beiden genannten Hypothesen widersprechen, und sie wurden auch nie wissenschaftlich bewiesen. Der bekannte deutsche Psychiatrieprofessor und Depressionsexperte Tom Bschor bezeichnet die Serotonin-Hypothese der Depression als «das Märchen vom Serotoninmangel». Die tatsächlichen Ursachen psychischer Störungen sind offensichtlich wesentlich komplexer als die genannten einfachen Hypothesen und es gibt bis heute keine allgemein anerkannten Modelle und Erklärungen.

Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 11/2023