Der Schwangerschaftsabbruch schien «die Lösung». Stattdessen quälten Claudia Reichstein-Wellbrock danach psychische Probleme. Im Interview spricht sie über ein Thema, das in unserer Gesellschaft kaum Beachtung findet.
Daniela Wagner
3. Januar 2018

Frau Reichstein-Wellbrock, seit Sie sich erinnern können, wollten Sie fünf Kinder. Dennoch haben Sie mit 16 abgetrieben. Warum haben Sie sich damals für diesen Schritt entschieden?
Claudia Reichstein-Wellbrock: Ich war jung, in einer Gesangs-Ausbildung und ohne Kindsvater. Letztlich sollte ein Kind nicht meine Lebenspläne durchkreuzen. Bestärkt wurde dieses Denken von der Gesellschaft, die mir mit Sätzen kam wie: «Du versaust dir dein Leben, wenn du jetzt das Kind bekommst.» Mir war natürlich auch klar, dass ich eingeschränkt sein würde ...

Was war mit Ihren Eltern und dem Vater Ihres ungeborenen Kindes?
Die Eltern drängten mich weder in die eine noch in die andere Richtung. Das war mir keine wirkliche Entscheidungshilfe. Der Vater des Kindes wollte, dass ich das Kind bekomme. Er war aber verheiratet und hatte eine Familie.

Dann gingen Sie zum Frauenarzt ...
Ja. Er sagte, was ich in mir trüge, sei noch kein Kind, nur ein Zellklumpen. Den wegzumachen, sei kein Problem.

Haben Sie ohne grosse innere Kämpfe zugestimmt?
Ja, ich vertraute ihm und dachte, wenn es wirklich noch kein Kind ist, es sich also nur um Zellen handelt, dann kann ich das ruhig machen.

Sie erzählen, wie Ihnen Tränen über die Wangen liefen, als Sie in den Operationssaal gerollt wurden und auch, als Sie aus der Narkose aufwachten. Kamen nach einer kampflosen Phase plötzlich Zweifel?
Genau. Ich lag vor dem Eingriff auf der Entbindungsstation, überall waren Mütter mit ihren neugeborenen Kindern. Da stiegen in mir leise Zweifel hoch, ich blieb aber trotzdem bei meiner Entscheidung. Als ich in einer kleinen Kammer für die OP vorbereitet wurde, weinte ich ... wahrscheinlich wusste ich instinktiv, dass es sich nicht um einen Zellklumpen handelte.

Was geschah nach dem Eingriff?
Ich kam in ein Zimmer mit acht Wöchnerinnen. Alle vier Stunden wurden ihnen ihre Babys zum Stillen gebracht. Es war ganz schlimm, ich fühlte mich so was von elend. Eine Schwester meinte nur: «Warum heulst du denn, du wolltest es doch so.»

Mein Vater holte mich aus dem Krankenhaus ab, doch ich blutete so stark, dass er mich gleich wieder ins Spital fuhr, wo eine Not-OP gemacht werden musste. Hinterher bekam ich gesagt, dass ich in Zukunft keine Kinder mehr bekommen könnte. Das versetzte mir den letzten Stoss in eine Depression, war doch damit mein Kinderwunsch für immer beerdigt.

(Artikelauszug aus ethos 01/2018)