Sie wächst zunächst im Verborgenen, fast unbemerkt, kaum greifbar. Es bleibt aber nicht dabei. Die Saat geht auf, wurzelt und zeigt bald ihre giftige Frucht: Bitterkeit.
Yvonne Schwengeler
13. Februar 2020

Entstanden aus Enttäuschungen, Verletzungen oder Demütigungen. Aus genährtem Groll wird immer Bitterkeit. Sie setzt sich im Herzen des Einzelnen fest, entzweit Menschen und zieht ihre zerstörerische Spur durch ganze Gemeinden.

Gefühle suchen ein Ventil. Je nach Temperament macht sich der eine Luft, wenn er Ärger empfindet, der andere frisst ihn in sich hinein und kultiviert ihn, indem er seine Gedanken immer wieder über dem empfundenen Unrecht kreisen lässt. Man nährt sich damit, stündlich, täglich, manchmal über Jahre. Das ist keine Kost, die uns aufbaut und uns zu einer gesunden Persönlichkeit werden lässt. Der Ärger hat Folgen, wenn er nicht bereinigt wird. Schnell entsteht aus Miss- oder Unverständnis eine gefährliche Mine, die jederzeit explodieren kann.

So unglaublich es klingt, auch das Negative kann zu einem Besitz werden, auf den man nicht mehr verzichten möchte. Wie ein Gefängnis, das zu einer Burg wird, aus der sich ein Mensch mit der Zeit nicht mehr heraussehnt.

Es ist ein Irrtum, die Pflanze der Bitterkeit zu pflegen und sie zugleich geheim halten zu wollen. Die bittere Wurzel trägt immer eine giftige Frucht. Langsam aber sicher wird die schneidende Spitze der Unversöhnlichkeit ihren Weg an die Oberfläche finden und andere verletzen. Es genügt nicht, das wuchernde Unkraut an der Oberfläche zu entfernen und einander mit krampfhafter Freundlichkeit zu begegnen. Die Wurzel des giftigen Gewächses muss mit Stumpf und Stiel ausgerissen werden, damit sie keinen Schaden mehr anrichtet, denn am meisten leiden die Betroffenen selbst und werden Opfer der peinigenden, ätzenden inneren Qual.

ER sieht!

Bitterkeit ist kein Kavaliersdelikt, sie führt den Lästerkatalog in Epheser 4 sogar an:

«Alle Bitterkeit und Wut und Zorn und Geschrei und Lästerung sei von euch weggetan, samt aller Bosheit.» Und das Rezept wird uns im nächsten Vers gleich mitgeliefert: «Seid aber zueinander gütig, mitleidig und vergebt einander, so wie auch Gott in Christus euch vergeben hat.»

Niemand wird bitter, weil er sich das ausgesucht hat. Es geschieht einfach im Miteinander, ganz einfach weil wir Sünder sind. Wir werden nicht nur verletzt, wir verletzen selbst. Das zu wissen ist schon mal hilfreich. Nur wenn uns zutiefst bewusst ist, dass auch wir auf Vergebung von Gott und unseren Mitmenschen angewiesen sind, können wir Gnade walten lassen.

Achten wir doch einmal auf unsere Worte. Worüber sprechen wir? Darüber, was man mir angetan, wie man mich behandelt hat? Dann suchen wir Unterstützung, Verständnis bei andern, um einen kleinen Trost für die erlittene Kränkung zu erhalten. Als könnten wir dieses Gefühl der Zurücksetzung nicht ertragen.

Weshalb eigentlich nicht? Die übergrosse Kränkbarkeit zeigt, dass wir selbst Mittelpunkt unseres Lebens sind. Und wie viel Not entsteht gerade dadurch, dass wir kein Unrecht einstecken können, ohne gleich auszuschlagen. Reicht es nicht, zu wissen, dass der Vater im Himmel gerecht ist und die Zusammenhänge besser kennt? Er hat mitgehört. Er war dabei. Das genügt. Und wenn uns diese verletzenden Worte nun zugemutet werden, so wird es gut sein für uns.

Das Vorbild Josefs

Mir persönlich hilft das Vorbild Josefs, wenn ich mich ungerecht behandelt fühle. Es hält mir den Spiegel vor und bringt mich wieder auf Kurs.

«Und Josef sprach zu seinen Brüdern: Ich bin Josef, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt. Und nun betrübt euch nicht, und zürnt nicht über euch selbst, dass ihr mich hierher verkauft habt ... Und er küsste alle seine Brüder und weinte an ihnen; und danach redeten seine Brüder mit ihm» (1. Mose 45,3 ff.).

Eine wirklich bewegende Geschichte! Übler kann man jemandem kaum mitspielen. Wäre Josef imstande gewesen, seinen Brüdern in dieser Freiheit zu begegnen, wenn er ihnen nicht vorher schon von Herzen vergeben hätte? Da waren seine Erinnerungen! Wie sie ihn brutal und erbarmungslos in einen Brunnen geworfen hatten. Wie er geschrien und sie um Mitleid angefleht hatte, als er von den Kaufleuten weggeführt wurde. Die Erinnerungen daran, wie sie das Geld einsteckten, das sie für ihn bekommen hatten; wie sie lachten, als sie weggingen, und ihn allein liessen.

Viele Jahre lang hatte Josef Zeit gehabt, darüber nachzudenken und sich diesen Film im Kopf immer wieder anzusehen. Aber Josefs Verhalten zeigt deutlich, dass in seinem Herzen etwas geschehen sein musste. Hatten seine Brüder ihn um Verzeihung gebeten? Davon lesen wir nichts. Darauf hat Josef nicht gewartet. Er vergab. Dadurch war er ein freier Mann.

Zur Freiheit berufen

Wir sollten damit aufhören, von unvollkommenen Menschen das Ideale zu erwarten, und vielmehr damit anfangen, mit dem Realen zu leben – das immer mit Versagen durchzogen ist, mit Unvollkommenheit und sogar mit Schuld. Statt «einander zu beissen und zu fressen» (Galater 5,15), lasst uns einander vielmehr in Liebe dienen!

Wir sind zur Freiheit berufen. Das ist unsere eigentliche Bestimmung. Erst wenn Jesus Christus Zentrum unseres Denkens wird, werden wir eine ganz neue Weite erfahren. Wenn wir uns mit ihm, seinem Wort und Wesen beschäftigen und sein Ziel zu unserem machen, werden wir umgestaltet in sein Bild. Dies ist ein Geheimnis und zugleich der Weg, um wirklich frei zu werden.

Artikel aus ethos 02/2020.