Am 6. April 1946 erblickte ich in einem Mutter-Kind-Heim in Soest in Westfalen das Licht der Welt. Mein Geburtsname ist Hanna-Margarete Matthée, aber ich wurde immer Margrit genannt. Der Zweite Weltkrieg war noch kein Jahr zu Ende. Meine Heimat lag in Trümmern, es gab kaum brauchbare Wohnungen. Die Infrastruktur war völlig zerstört, Lebensmittel waren knapp. Wir hatten viel Hunger und wenig Hoffnung. Mein Eintritt in die Welt geschah unter verzweifelten, aber irgendwie auch wundersamen Umständen.
Meine Mutter Elisabeth Matthée wurde 1904 in Berlin geboren. Sechs Jahre später herrschte Hungersnot in der Stadt. Deshalb schickte man sie und ihre ältere Schwester Grete nach Ostpreussen. Sie lebten dort einige Zeit bei Verwandten auf einem Bauernhof, wo meine Mutter vom Gutsherrn sexuell missbraucht wurde. Später erklärte ihr ein Arzt, ihre Gebärmutter sei so schwer geschädigt, dass sie nie Kinder bekommen könne. Aus diesem Grund heiratete sie nie. Die Stadt Berlin, in der meine Mutter als junge Frau lebte, wurde während des Zweiten Weltkriegs ständig bombardiert, besonders gegen Ende des Krieges. Eine Bombe traf das Haus meiner Mutter, zerstörte das Wohnzimmer und machte das ganze Gebäude unbewohnbar. Deshalb flüchtete sie nach Bayern, wo das Leben etwas sicherer war. Dort arbeitete sie auf einem Bauernhof im Garten. Sie lernte einen Mann aus Hamburg kennen, Hans Gütschow, der in einer Apotheke arbeitete.
Die Stadt Hamburg war wegen ihrer grossen Werften ein strategisches Ziel der britischen und amerikanischen Luftwaffe. Ende Juli 1943 lösten die Luftangriffe eine Brandkatastrophe aus, bei der schätzungsweise 37 000 Zivilisten getötet und 180 000 verletzt wurden. Weitere Luftangriffe folgten. Die Nachrichtenverbindungen zwischen Hamburg und dem Rest Deutschlands waren schwierig, sodass die Menschen in Bayern annahmen, Hamburg sei völlig zerstört.
Hans hatte keine Nachricht von seiner Familie. Deshalb ging er davon aus, seine Frau und seine beiden Kinder seien bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Meine Mutter und Hans begannen eine Liebesbeziehung. Er versprach ihr, sie nach dem Krieg zu heiraten.
Die Tatsache, dass meine Mutter mit 41 Jahren schwanger wurde, obwohl ihr die Ärzte versichert hatten, es sei unmöglich, war das erste Wunder in meinem Leben. Später stellte sich heraus, dass die Familie meines Vaters noch lebte. Als meine Mutter davon hörte, brach sie die Beziehung ab, weil sie die Familie nicht zerstören wollte. Nachdem mein Vater von der Schwangerschaft erfuhr, versuchte er zunächst, die Vaterschaft zu leugnen. Nach Kriegsende kehrte meine Mutter im dritten Monat schwanger nach Berlin zurück.
Was sollte mit dem Kind geschehen? Die Situation als alleinstehende, schwangere Frau war damals nicht ungewöhnlich. Man konnte davon ausgehen, dass meine Mutter verheiratet gewesen und ihr Mann im Krieg gefallen war. Aber sie wusste nicht, wie sie für das Kind sorgen sollte, zumal sie voll berufstätig war. Die Lebensmittel waren äusserst knapp und es würde schwierig werden, während der Schwangerschaft gute Nahrung und alles andere für ein heranwachsendes Kind zu bekommen. Mit 42 Jahren war sie auch schon ziemlich alt für eine erste Schwangerschaft. Eine Abtreibung schien die einzige Lösung zu sein.
Da geschah das zweite von vielen Wundern, die mein Leben prägten. Der Arzt verweigerte meiner Mutter die Abtreibung, weil die Schwangerschaft bereits zu weit fortgeschritten war. Sie schrie in ihrer Not zu Gott und bat ihn um Vergebung. Sie schloss einen Bund mit ihm, dass sie es als Vergebung annehmen würde, wenn ihr Kind im Erwachsenenalter einmal dem Herrn dienen würde. Heute glaube ich, dass ihr Gebet meinen Lebensweg bestimmte.
Die Grossmutter meiner Mutter wohnte in Essen im Ruhrgebiet. Sie hatte eine Wohnung, in der meine Mutter ein Zimmer beziehen konnte, und bald fand sie Arbeit in einem Büro. Sie hielt es für die beste Lösung, mich nach meiner Geburt in ein Waisenhaus zu geben. Dann könnte sie mit einer Vollzeitstelle unseren Lebensunterhalt verdienen. Da die Lebensmittel in Essen knapp waren, suchte sie nach einem Waisenhaus in einer ländlichen Gegend, denn die Nähe zu Bauernhöfen würde mir eine zuverlässigere Versorgung garantieren.
Als meine Geburt bevorstand, fuhr meine Mutter etwa 90 km nach Osten in die westfälische Stadt Soest. Dort gab es ein Waisenhaus mit Entbindungsstation und Hebammen, gläubige Christinnen. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters verlief die Geburt ohne Probleme. Meine Mutter blieb zwei Monate bei mir und kehrte dann nach Essen zurück. Obwohl die Zugverbindungen oft schlecht waren, besuchte sie mich alle zwei Wochen für ein paar Stunden.
Meine Vorfahren
Meine Grosseltern Walter und Johanna Matthée hatten zwei Töchter: Grete, geboren 1902, und meine zwei Jahre jüngere Mutter. Meine Grossmutter war gläubig und nahm ihre beiden Töchter mit in die Kirche. Grossvater stand dem christlichen Glauben ablehnend gegenüber, liebte aber die hebräische Sprache und besuchte mit einem jüdischen Bekannten oft die Synagoge in Berlin.
Meine Grossmutter starb 1943. Ein Jahr später, im Alter von 76 Jahren, wurde Grossvater von der Geheimen Staatspolizei abgeholt. Er war deutscher Staatsbürger und es ist bis heute unklar, warum die Nazis ihn verfolgten. Vielleicht hielten sie ihn wegen seines hohen Alters und körperlichen Behinderungen für nutzlos im Sinne der Nazi-Ideologie. Oder vermuteten sie hinter seinem Namen eine jüdische Herkunft? Wir wissen, dass ihm gesagt wurde, er käme in ein gutes Altersheim in Polen, wo er vor den Bombenangriffen in Berlin sicher wäre. Viele Jahre später erfuhr ich, dass er in das kleine Dorf Rozdrazew in ein Vernichtungslager kam, wo er am 14. Oktober 1944 ermordet wurde.
Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 12/2024