Bücher über Hochsensibilität boomen. Was ist davon zu halten? Ein medialer Hype – aufgebauschtes Thema von Frauenzeitschriften? Unbestritten ist, dass es Menschen gibt, die intensiver fühlen und extremer auf Reize reagieren, deren Antennen immer auf Empfang sind. Das Nervensystem Hochsensibler funktioniert anders. Das zeigen auch Studien mit MRT.
Yvonne Schwengeler
24. August 2022

Um es gleich vorneweg zu sagen: Hochsensibilität ist weder eine Krankheit noch eine psychische Störung, nichts, wofür man sich schämen müsste, sondern vor allem ein Wesenszug wie das Temperament – Gabe von Gott und Aufgabe zugleich. Etwa 15 Prozent sollen hochsensibel sein, Frauen wie Männer, sehr viele wissen aber nichts darüber. Die Ausprägung bei Betroffenen variiert jedoch stark. Schon als Kinder fallen Hochsensible auf durch tiefgründige Gedanken, eine präzise Ausdrucksweise und eine grosse Wahrnehmungsbegabung.

Mit dem Wort «sensibel» verbinden wir in der Regel emotionale Reaktionen: schnell beleidigt oder «nah am Wasser gebaut». Das stimmt aber nur zum Teil. Die Welt der Gedanken und äussere Reize spielen genauso eine Rolle.

Der 65-Jährige E. S. hat seine Hochsensibilität erst vor wenigen Jahren erkannt. Für ihn war das ein «Aha»-Effekt für sein Anderssein, das ihn zeitlebens belastet hatte: «Es war eine Befreiung, es war wie durch eine Tür zu gehen, zu der man den Schlüssel gefunden hat.»
In meinem engeren Bekanntenkreis sind vier Personen, die ich als hochsensibel bezeichnen würde, die aber trotz dieser Veranlagung unterschiedlich sind. Generell kann man sagen: Hochsensible sehen, hören, fühlen, schmecken und riechen ohne Filter.

Nicht krank, nur anders

Der Begriff Hochsensibilität wurde von der US-amerikanischen Psychologin und Universitätsprofessorin in New York, Dr. Elaine N. Aron, geprägt.

Hochsensibilität bedeutet, dass man seine Umwelt auf allen Ebenen mit allen Sinnen verstärkt wahrnimmt, was schnell zur Reizüberflutung führen kann. Die Reize werden tiefer verarbeitet und die Emotionen schwingen länger nach. Charakteristisch für Hochsensible ist:
- ein grosses Einfühlungsvermögen, Empathie
- starke Berührbarkeit
- vielschichtige Fantasie
- intensives Erleben der Natur, von Kunst und Musik
- hohe Begeisterungsfähigkeit
- hohe Eigenverantwortung und das Bedürfnis nach Unabhängigkeit
- ausgeprägter Gerechtigkeitssinn
- extreme Selbstreflexion
- Tiefgründigkeit
- Denken in grossen Zusammenhängen
- Harmoniebedürfnis
- Perfektionismus
- Beeinflussbarkeit durch die Befindlichkeit anderer
- Schwierigkeit mit starren Strukturen
- Schwierigkeiten im Umgang mit Stress und Leistungsdruck
- Schmerzempfindlichkeit und Neigung zu Allergien und Haut­erkrankungen
- starke Reaktionen auf Medikamente, Alkohol, Koffein

Hochsensible Menschen sind emotionaler, nehmen jedes Detail wahr. Ein Lied kann sie gefühlsmässig völlig überwältigen. Eine besondere Wolkenformation, ein Sonnenuntergang, das Zwitschern der Vögel oder das Plätschern von Regen auf dem Dach – das alles wird ganz intensiv gespürt und als überaus beglückend empfunden. Weniger Sensible können manches nicht so geniessen und stellen die Empfindungen Hochsensibler in Frage, weil sie es als Übertreibung interpretieren, tatsächlich aber ist das Erleben so intensiv.

Ein ständiger Lärmpegel, Stress und Leistungsdruck hingegen sind für hochsensible Menschen unerträglich. All diese Reize können auch eine physische Auswirkung haben. Die Anspannung kann sich auf den Seh- und Gehörnerv auswirken, Bauchschmerzen bereiten oder ein Kribbeln und Zittern im Körper auslösen. Die Befindlichkeit des Gegenübers am eigenen Körper zu spüren und das «Lesen» von Gedanken anderer kann zu völliger Überforderung führen. Deshalb brauchen Hochsensible vielmehr Ruhe und Rückzugsmöglichkeiten als der Durchschnitt.

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