Lebensglück dadurch finden, dass man gezielt auf das eigene Glück verzichtet? Undenkbar!
Nicola Vollkommer
10. Januar 2016

Mitten in den Verordnungen, die das Volk Israel im Alten Testament zu beachten hatte, taucht eine skurrile Regelung zum Umgang mit Sklaven auf. Früher habe ich diese Stelle gerne übersprungen. Sie kam mir barbarisch vor.

«Und es soll geschehen, wenn er (der Sklave) zu dir sagt: Ich will nicht von dir weggehen – weil er dich und dein Haus liebt, weil es ihm bei dir gut geht –, dann sollst du einen Pfriem nehmen und ihn durch sein Ohr in die Tür stechen, und er wird für immer dein Sklave sein» (5. Mose 15,16 ff.).

Zu den Hintergründen: Sklaven, die ihre Dienstjahre vollzogen hatten und im sogenannten «Jubeljahr» einen Freibrief erhielten, durften ihre Herren verlassen und eine eigene Existenz gründen. Die Freilassung von Sklaven war sensationell. So ein Gnadenerlass wurde ausschliesslich beim jüdischen Volk praktiziert. In der sonstigen Antike gehörten Sklaven zum Hausrat: Sie freizulassen, wäre keinem Meister in den Sinn gekommen. Sie überhaupt als Menschen zu sehen, war ein Skandal.

Bei den Israeliten gab es nicht nur die Möglichkeit der Freilassung. Es kam noch dazu, dass ein Sklave, der dies wünschte, aus freien Stücken bei seinem Meister bleiben durfte. Das Ritual mit dem Pfriem durchs Ohr besiegelte seinen Beschluss, und die Narbe, die dadurch entstand, diente als bleibende Erinnerung. Danach gab es kein Zurück mehr. Der Sklave war Leibeigener seines Herrn auf Lebenszeit. Sein Meister verfügte über jeden Bereich seines Lebens. Die einzige Aufgabe des Sklaven von nun an bestand darin, den Augen seines Herrn jeden Wunsch abzulesen.

In unserer heutigen Gesellschaft, die mit Selbstverwirklichung, Selbstinszenierung und der Erfüllung der eigenen Träume besessen ist, mutet das Konzept, das eigene Leben zu verschenken, fremd an. Lebensglück dadurch finden, dass man gezielt auf das eigene Glück verzichtet? Undenkbar! In einer Zeit, in welcher der Ich-Kult als einzige Tugend vermarktet wird, klingt es zu sehr wie blinde Unterwerfung und ein Flatrate-Verlust der Persönlichkeit. Dort, wo verbindliche christliche Werte über Bord geworfen werden, bleibt sexuelle Begierde die einzige Kraft, die einen Menschen dazu bewegt, sich für einen anderen aufzuopfern. Diese Begierde ist aber bekanntlich von kurzer Dauer, weil sie ohne die schützende und lenkende Hand Gottes doch nur nichts anderes ist als eine weitere vom Ego getriebene Suche nach Glück.

Eine Anhänglichkeit, die von der eigenen Selbstverwirklichung wegsieht und dabei völlig abgekoppelt von sexueller Begierde ist, kennt unsere moderne Welt nicht. Die Bibel aber kennt sie gut. Sie ist eine von zwei Lebensentwürfen, die sich durch die Biografien biblischer Charaktere ziehen, mal parallel zueinander, mal auf Kollisionskurs miteinander. Hin und wieder finden sich im Leben einer Person die Spuren beider Lebensentwürfe.


Biblische Erfolgsversuche nach eigenem Rezept

Es gibt diejenigen, die Regisseur ihres eigenen Glücks sein wollen trotz göttlicher Warnungen. Der Sklave in 5. Mose sucht die Weite, ohne nur einen Augenblick darüber nachzudenken, weil er keine Beziehung zu seinem Meister hat. Das menschliche Herz, das von Gottes Liebe nicht bewegt oder ihr gegenüber kalt geworden ist, geht instinktiv eigene Wege. Da kommt einem zum Beispiel Sarah, die Frau des ersten Patriarchen, in den Sinn, die auf krummen Wegen versucht, zum lang ersehnten Sohn zu kommen. Sie schickt ihre Dienerin für eine Nacht zu ihrem Mann Abraham ins Zelt (1. Mose 16). Der Familienfriede ist – wen überrascht es? – damit Vergangenheit, der Rest Geschichte.

Abrahams Neffe, Lot, lässt seine Sinne von den erfolgversprechenden, saftigen Weideländereien Sodoms betören und koppelt sich von der Familie ab. Dieser Schritt führt ihn und seine Familie letztlich in den Abgrund (1. Mose 19).

Jakob, Enkelsohn Abrahams, führt die negative Familienkultur weiter. Er betrügt seinen Bruder um das Erbrecht, lügt seinen Vater an und zieht seinen Schwiegervater über den Tisch, um dessen Erbe zu sichern. Nebenher führt er einen Harem mit vier sich zankenden Frauen und muss sich nicht wundern, dass auch seine Kinder aus den Fugen geraten. Er bedient sich freizügig an dem, was Gott ihm sowieso geben will, und vergrault dabei seine Familie. Völlig unnötig.

Sein Sohn Josef macht es nicht besser. Als typischer Teenager stellt er seine Sunny-Boy-Ausstrahlung grosszügig zur Schau, sonnt sich in der Gunst eines überstolzen Vaters und geniesst den Neid seiner Brüder. Alle Vorzüge des Lebens zu haben, ohne sich im Geringsten zu bemühen – so lässt es sich gut leben. Seine Zukunft als Papas Thronfolger in der Führung des Familienclans ist gesichert. Bis zu jenem Schicksalstag in der Stadt Dothan, als er von seinen Brüdern verkauft wird und in Gottes Lebensschule gerät.

Jede neue biblische Generation hat ihre eigenen Varianten der freischaffenden Möchtegern-Glückspilze zu bieten. Mose versucht in einem peinlichen Solo­akt, sich an den Sklaventreibern seines Volkes zu rächen (2. Mose 2). Plötzlich hat er eine Straftat am Hals und muss aus Ägypten fliehen. Der spätere israelitische König Saul verspielt eine Chance nach der anderen, sein Gottvertrauen unter Beweis zu stellen (1. Sam. 11 und 13) und will lieber für sein eigenes Happy End sorgen. Jahrhunderte später
versucht Petrus, die bedrohliche Konfrontation mit den Feinden Jesu im Garten Gethsemane selber zu regeln, und wird gegen den Diener des Hohenpriesters handgreiflich (Joh. 18,10).

Menschliche Versuche, Glück und Erfolg an sich zu reissen, scheinen auf ganzer Linie ins Gegenteil umzuschlagen. Gott geht mit den Menschen besonders hart ins Gericht, die ihn zwar kennen, eine wichtige Aufgabe von ihm bekommen haben, ihm aber ihr Vertrauen nicht schenken.

(Artikelauszug aus ethos 01/2016)