Homo sapiens und die Suche nach mir selbst.
Daniel Schulte
1. April 2016

Tja, wo fange ich mit meiner Suche nach mir an? Ehe ich mich versehe, lande ich mit einem Klick bei Wikipedia und staune nicht schlecht: «Der Mensch ist ein Säugetier aus der Ordnung der Primaten. Er gehört zur Unterordnung der Nasenaffen und dort zur Familie der Menschenaffen.» In mir regt sich Widerstand, denn das klingt mir allzu affig, allzu tierisch.

Obwohl – man sang doch früher mal das nette Lied: «Ich wollt’ ich wär’ ein Huhn, dann hätt’ ich nichts zu tun, ich legte jeden Tag ein Ei und sonntags auch mal zwei.» Ein noch älterer Schlager ging so: «Ein Regenwurm hat’s gut, ein Regenwurm hat’s fein, ach könnt’ ich doch, ach dürft’ ich doch ein Regenwurm mal sein ...!» Wenn das mal nicht ein schönes Leben ist: Weder Huhn noch Wurm machen sich Sorgen um morgen. Das Huhn hat nichts zu tun, als nur Regenwürmer zu fressen und sich des Lebens zu freuen. Der Regenwurm schaut dem Tod im Huhn entgegen, ohne eine Lebenskrise zu bekommen. Und noch nie hat ein Regenwurm versucht, seinem Schicksal durch Selbstmord zu entkommen. Er fragt sich auch nie: «Wer bin ich eigentlich, dass ich mich fressen lasse?» Die Frage «Wer bin ich?» ist zutiefst menschlich. Kein anderes Lebewesen stellt sie.

Ein Blick auf den Wikipedia-Artikel stimmt mich nun doch ein wenig versöhnlicher, er fügt nämlich hinzu: «Unter den Lebewesen zeichnen den Menschen vor allem zahlreiche kognitive Fähigkeiten aus. Diese konstituieren letztlich die menschliche Kultur und Gesellschaft sowie die Fähigkeiten zur Reflexion und Transzendenz.» So ist es!

 

Unterwegs zum Ich

Seit jeher fragt sich der Mensch: «Wer bin ich?» und findet zumindest schon mal eine Antwort: Ich bin mir selbst ein Rätsel! Statistisch gesehen zunächst kein Wunder. Im schier endlosenWeltall gibt es unzählige Galaxien, man vermutet viele Milliarden Milchstrassen. «Unsere» Milchstrasse ist eine davon, sie besteht mutmasslich aus mehreren hundert Milliarden Sonnen. «Unsere» Sonne ist eine davon. Um diese Sonne kreisen mehrere Planeten, einer davon ist unser Blauer Planet, die Erde. Auf dieser Erde gibt es eine unendliche Fülle von Lebewesen, von Gattungen und Arten, Pflanzen und Tieren, darunter auch jene merkwürdige Art mit dem lateinischen Namen Homo sapiens, der Mensch. Von dieser einen Art unter Millionen von Arten gibt es wieder über sieben Milliarden Exemplare. Eines davon bin ich! Statistisch gesehen weniger als ein Staubkorn. Wie in aller Welt soll ich da mein Ich finden? Da findet ein blindes Huhn ja eher einen Regenwurm als ich mein Ich!

Aber Tatsache ist, ich bin unterwegs zum Ich. Damit liege ich voll im Trend. Denn alle Welt spricht vom Selbst mit Anhang: Selbstbewusstsein, Selbstannahme, Selbstbestätigung, Selbstständigkeit, Selbstbedienung, selbst ist der Mann, selbst die Frau, Selbstverwirklichung ... Aber wenn das Selbst verwirklicht werden soll, dann drückt es doch einen Mangel aus. Bin ich noch nicht wirklich? Habe ich die Wirklichkeit noch nicht gefunden? Selbstfindung: Wo hat sich denn mein «Selbst» verloren, wenn es gefunden werden muss? In den vielen Seins-Angeboten unserer Zeit? Im Alltagsstress? Ich höre viele Menschen sogar von Selbsterlösung reden und stelle damit fest, dass sie sich als gefangen verstehen. Nur – gefangen worin, wovon?

(Artikelauszug aus ethos 04/2016)