Kinder sehnen sich nach bedingungsloser Liebe und Eltern erwarten von ihren Sprösslingen Respekt. Das eine geht nicht ohne das andere.
Roswitha Wurm
15. April 2016

Der Gottesdienst ist zu Ende. An der Garderobe nimmt der Zwanzigjährige einen Wollmantel und hilft seiner Mutter hinein. Verwunderte und bewundernde Augenpaare verfolgen die Szene. Als er ihr dann noch die Tür beim Hinausgehen aufhält, sagt eine Frau zur Mutter: «So viel Respekt hätte ich auch gerne von meinem Sohn!»

Ein Junge rast nach dem Gottesdienst laut lachend zwischen den Stuhlreihen umher. Seine Mutter ermahnt ihn mehrmals und versucht ihn einzufangen. Vergeblich! Auch anderen Erwachsenen gehorcht er nicht. Er ist so richtig in Fahrt und erntet überall missbilligende Blicke. Jemand nimmt die Frau zur Seite und meint: «Ich glaube, dein Sohn hat ein Problem mit respektvollem Umgang!»

Es scheint, als wäre Respekt nicht in jeder Familie ein Thema. Allerdings handelt es sich in beiden Begebenheiten um dieselbe Familie. Ich selber bin die Mutter, welcher in den Mantel geholfen wurde und die ihren Sohn einfach nicht bändigen konnte. Nur zu gut erinnere ich mich an mein Empfinden, als Mutter versagt zu haben, wenn mein lebhafter Sohn in seinen Kinderjahren wieder einmal ausser Rand und Band geraten war ...


Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Das Wort «respektieren» stammt von seinem sprachlichen Ursprung her aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie «jemanden berücksichtigen» oder «bemerken». Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder die elterlichen Worte beherzigen, auch die Menschen neben sich wahrnehmen, und dass dies in ihren Handlungen sichtbar wird. Benehmen sich die Kinder daneben, merken Eltern schnell: Wunsch und Wirklichkeit klaffen hin und wieder deutlich auseinander.

Eltern neigen mitunter dazu, allzu perfektionistisch zu sein. Sie übersehen in ihrem Wunsch, vor Gott und der Welt (und besonders eben vor letzterer!) untadelig dazustehen, dass Kinder einfach das sind, was sie sind: Kinder. Eine Frucht würden wir auch nicht vor der Zeit als «reif» bezeichnen. Bei unseren Kindern setzen wir jedoch häufig diesen hoch angesetzten Massstab.


Der Teufelskreis des Familienwahnsinns

Der christliche Familientherapeut und Pastor Emerson Eggerichs meint: «Kinder wollen von ihren Eltern bedingungslos geliebt werden. Eltern sehnen sich danach, von ihren Kindern respektiert zu werden. Aus diesem Grundsatz leitet er folgende Beobachtung ab: Ohne elterliche Liebe reagiert das Kind ohne Respekt. Ohne Respekt von Seiten des Kindes reagieren Eltern lieblos. Manchmal heizen Eltern diese Situation sogar ungewollt an, indem sie zu streng, wütend oder gar ungerecht reagieren, weil sie den Respekt des Kindes einfordern wollen. Dies wiederum findet das Kind lieblos und reagiert mit Auflehnung. Er nennt dies den Teufelskreis des Familienwahnsinns.

Bei scheinbar respektlosem Verhalten des Kindes sollten wir uns als Eltern fragen: Handelt das Kind alters- bzw. entwicklungstypisch, oder verhält es sich mutwillig respektlos? Das ist nicht immer ganz leicht zu unterscheiden. Manchmal ist es sinnvoll, das Prinzip «Im Zweifel für den ‹Angeklagten›» anzuwenden und dem Kind gleichzeitig zu erklären, welche Reaktion angemessen gewesen wäre.

Liebevoller Umgang von Seiten der Eltern ist genauso wichtig wie das «An-einem-Strang-Ziehen». Ist das nicht der Fall, finden Kinder schnell Wege, Vater und Mutter gegeneinander auszuspielen.

(Artikelauszug aus ethos 04/2016)