Unter grossem Kraftaufwand meldet sich die beliebte ethos-Autorin nochmals zu Wort und lässt teilhaben an ihrem Erleben. Ein kostbares Vermächtnis – Teil 2.
Irmgard Grunwald
27. Juli 2017

Die Ausgangssituation
Früher immer aktiv in Familie und Gemeinde, sitze ich seit 2004 nur noch im Rollstuhl. Die unheilbare, fortschreitende und tödlich verlaufende Erkrankung ALS (Amyotrophe Lateralsklerose), diagnostiziert im Jahr 2001 im Alter von 40 Jahren, bewirkt fortschreitende Lähmungen im ganzen Körper. Durch einen Defekt in den motorischen Nervenzellen kann die Muskulatur nicht mehr angesteuert werden, die Muskeln degenerieren. Arme und Beine, Füsse und Hände werden völlig unbrauchbar; auch die Atemmuskulatur ist betroffen, und ich muss inzwischen 24 Stunden am Tag maschinell beatmet werden. Die Krankheit macht mich bei allen körperlichen Bedürfnissen abhängig von anderen Menschen wie ein neugeborenes Baby – Hilflosigkeit ist mein ständiger Begleiter geworden.

Seit circa zwei Jahren geht ausserdem – bedingt durch den Abbau der Muskulatur im Gesicht und im Mund – meine Sprechfähigkeit immer weiter zurück, die mündliche Kommunikation ist entsprechend stark eingeschränkt. Das Sprechen fällt mir sehr schwer, und die Artikulation ist zunehmend undeutlich. Leider ist auch das Schlucken dadurch ziemlich stark beeinträchtigt.

Glücklicherweise ist das Gehirn kein Muskel … und so kann ich dank modernster Computertechnik durch leichte Kopfbewegungen weiterhin meinen Laptop steuern und selbständig Texte schreiben.

 

Versprochen

«Macht euch (...) bewusst, dass ihr Sklaven von Christus seid, und tut mit ganzer Hingabe das, was Gott von euch möchte. Erfüllt eure Aufgaben bereitwillig und mit Freude, denn letztlich dient ihr nicht Menschen, sondern dem Herrn» (Epheser 6,6 b–7 NGÜ).

Eine der grössten Herausforderungen meines Lebens als «Pflege-fall» ist das Bewusstsein, dass meine krankheitsbedingten Beeinträchtigungen und meine körperliche Hilflosigkeit zwangsläufig Kreise ziehen. Nicht nur mein persönliches Leben wird davon in Mitleidenschaft gezogen, sondern das Leben meiner ganzen Familie ist in all den Jahren von meiner Krankheit geprägt und belastet. Wie die meisten Menschen möchte ich am liebsten «niemandem zur Last fallen» – doch genau das ist unvermeidbar. Mein Mann hat sogar seine hochgeschätzte Berufstätigkeit aufgegeben, um sich noch intensiver um mich kümmern zu können, und er ist durch meine Situation zumindest ebenso stark beeinträchtigt wie ich selbst. Allein bin ich hilflos wie ein Säugling, und mein Mann versorgt mich ständig liebevoll und selbstlos, zeitweise unterstützt von ausgebildeten Pflegekräften. Wider Willen bin ich der «Klotz am Bein». Das gilt für «normale» Zeiten, aber erst recht für die Wochen mit dem akuten Infekt. Wie kann mein Mann das nur durchstehen?

Körperliches Leiden aushalten – das ist eine schwierige Aufgabe. Doch ohnmächtig dabei zusehen zu müssen – das scheint mir oft noch problematischer. Eine wahrhaft übermenschliche, göttliche Stärke ist es zweifellos, die diesen Kraftakt – nicht nur während meines akuten Infekts – für meinen Mann ermöglicht. Ununterbrochene selbstverständliche Dienstbereitschaft, Tag und Nacht, ohne Pause, ohne Unterbrechung, wochenlang. Hilflose Angst bei den immer wiederkehrenden Erstickungsanfällen.

Ständig kommen neue Schwierigkeiten dazu. Ich kann nicht mehr selbst trinken, also gibt mein Mann mir Wasser mit einer Spritze in den Mund – in winzigen Portionen von jeweils 3 ml. Für ein halbes Glas Wasser braucht man viel Geduld. Über den Tag verteilt reicht es dennoch nicht aus, deshalb benötige ich zusätzlich Infusionen. Mein Mann ist medizinischer Laie, doch er lernt das Legen der Infusion. Tabletten müssen gemörsert, Nahrung püriert werden. Die Benutzung des Cough Assist fördert grosse Mengen infektiöser eklig schleimiger Atemwegssekrete zutage; er entsorgt sie klaglos.

Soll nach dem Wort Gottes unser «vernünftiger Gottesdienst» nicht ausdrücklich so aussehen – sich ganz und uneigennützig Gott zur Verfügung stellen und dienen, wo Hilfe gebraucht wird!?

«Ich habe euch vor Augen geführt, Geschwister, wie gross Gottes Erbarmen ist. Die einzige angemessene Antwort darauf ist die, dass ihr euch mit eurem ganzen Leben Gott zur Verfügung stellt und euch ihm als ein lebendiges und heiliges Opfer darbringt, an dem er Freude hat. Das ist der wahre Gottesdienst, und dazu fordere ich euch auf. Richtet euch nicht länger nach den Massstäben dieser Welt, sondern lernt, in einer neuen Weise zu denken, damit ihr verändert werdet und beurteilen könnt, ob etwas Gottes Wille ist – ob es gut ist, ob Gott Freude daran hat und ob es vollkommen ist» (Römer 12,1–2 NGÜ).

Bei unserer Hochzeit vor 34 Jahren haben wir einander Liebe und Treue versprochen, in guten und schlechten Tagen, in Gesundheit und Krankheit ... Wenn wir damals geahnt hätten, was Gott uns abverlangt!

Mein Mann ist der Typ Mensch, der mir in den Sinn kommt, wenn ich an Glaubenshelden denke: jemand, der ohne Federlesens und völlig selbstverständlich das tut, was Gott ihm vor die Füsse legt. Das würde doch jeder machen, sagt er einfach. Schön wär’s.

(Artikelauszug aus ethos 7/2017)