Wo ist Jesus in unserem Alltag? Wie in den Osterjubel einstimmen, wenn wir mit einer schweren Krankheitsdiagnose konfrontiert werden, Geldsorgen uns plagen, die Kinder sich vom Glauben abwenden oder der Ehepartner uns verlässt? Sieht Gott unsere Not?
Yvonne Schwengeler
7. April 2017

Der Meteorologe hatte für den Januar eine längere Kälteperiode vorausgesagt, Temperaturen wenige Grad unter null. Aber, so meinte er, durch die auftretende Bise läge die gefühlte Temperatur etwa zehn Grad tiefer. Als ich am andern Tag übers verschneite Feld stapfte und mir der Wind um die Ohren pfiff, hätte ich eine Wette abgeschlossen, dass das Thermometer 15 Grad minus anzeigt. Doch dem war nicht so. Der Meteorologe hatte recht. Meine gefühlte Wirklichkeit entsprach nicht der objektiven, tatsächlichen Realität.

Ist es nicht auch in andern Bereichen so? Dass wir unsere Gefühle für die absolute Wirklichkeit halten? Auch in unserer Gottesbeziehung? Man fühlt sich Gott nahe, wenn die Gemeinde den Lobpreis anstimmt, aber schon zwei Stunden später, wenn der Alltag uns mit seinen Problemen einholt, sind die erhabenen Gefühle weg. Wir fühlen uns allein mit unseren Nöten. Ist das so? Ist Gott uns fern? Entspricht unser subjektives Empfinden der Wirklichkeit?


Theorie und Praxis

ER ist da! Jeder Christ würde das bejahen, zumindest theoretisch. Aber praktisch?

Wenn uns der Chef gekündigt hat? Geldsorgen uns plagen? Wenn wir gemobbt werden? Die Kinder sich vom Glauben abwenden oder der Ehepartner uns verlässt? Wenn wir mit einer schweren Krankheitsdiagnose konfrontiert werden? Wenn unsere Gefühle «im Keller» sind? Ist der Herr da? Sieht er unsere Not?

Wie oft wünsche ich mir, ich könnte IHN sehen, sein Eingreifen unmittelbar erleben. Doch der Weg des Christen liegt nicht im Schauen, sondern im Glauben. Im Glauben, dass Gott hält, was er versprochen hat. Unsere Gefühle sind trügerisch, auf sie ist kein Verlass, wohl aber auf Gottes Wort. ER ist der allwissende, allgegenwärtige und liebende Vater. Staunend betete David:

«Herr, du erforschst mich und kennst mich. Ich sitze oder stehe auf, so weisst du es; du verstehst meine Gedanken von ferne.
Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht schon wüsstest.
Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen» (Psalm 139,1–6).

Das ist tröstlich und erschreckend zugleich! Nichts ist dem heiligen Gott verborgen, und trotzdem wissen wir uns geborgen, weil er in Christus unser Vater ist. Er kennt unsere Sorgen und weiss um unsere Bedürfnisse.

 

Carl Studd war ein Missionar, der sein ganzes Leben für den Dienst an Gottes Reich hingab. Er war auf dem Missionsfeld alt geworden und hatte viele Beschwerden mit seinen Zähnen, von denen die meisten ausgefallen waren, sodass er sich längere Zeit von Wassersuppen ernähren musste. Man legte ihm deshalb nahe, heimzufahren und sich einer Zahnbehandlung zu unterziehen. Aber er antwortete: «Wenn Gott mir neue Zähne schenken will, so kann er sie mir ebenso leicht hierhinsenden.»

Kurze Zeit später bot der Zahnarzt Buck einer Missionsgesellschaft seine Dienste in Innerafrika an. Aber man wies ihn zurück, weil er zehn Jahre zu alt sei.

Da verkaufte er seine Praxis und trat mit dem Erlös die Reise auf eigene Faust an. Er liess sich zuerst an der Kongomündung nieder, um das Geld für die Weiterfahrt zu verdienen.

Unterwegs ins Innere begegnete er Carl Studd und seiner Frau in einem kleinen Boot. Nachdem sie sich begrüsst und miteinander gebetet hatten, meinte Buck: «Gott hat mich anscheinend nicht nur nach Afrika gesandt, um das Evangelium zu predigen, sondern auch, um Ihnen einen Zahnersatz zu bringen. Ich habe alles Nötige bei mir, um ihn anzufertigen.» So wurde dem alten Missionar ohne menschliches Planen ein neues Gebiss geschenkt.

«Ist das nicht unvorstellbar?», staunte Studd, «Gott schickt einen Zahnarzt in das Innere Afrikas, um nach den Zähnen seines Kindes, das nicht mehr heimreisen kann, zu sehen! Was wird das nächste Wunder sein, das Gott an mir tut?»

 

«Ich gehe fischen!»

Petrus und ein halbes Dutzend der Jünger Jesu, darunter auch die Fischer Jakobus und Johannes, sassen wenige Tage nach der Kreuzigung am See Tiberias. Was sie da wohl besprochen haben? Was ging ihnen durch den Kopf? Es waren junge Männer, die um Jesu willen ihre ganze Existenz aufgegeben hatten. Drei Jahre lang waren sie mit ihrem Meister durchs Land gezogen. Sie hatten Unfassbares erlebt: Blinde wurde sehend, Lahme konnten gehen, Kranke wurden gesund, Aussätzige rein und Tote wurden auferweckt. Und Tausende wurden satt durch fünf Brote und zwei Fische. Die Jünger hatten den Messias erkannt und bauten mit ihm an Gottes Reich. Jesus war da. Dann kam die Gefangennahme Jesu; ein Prozess, der keiner war; die dunklen Stunden der Kreuzigung, aber auch die Begegnung mit dem Auferstandenen.  

Und nun standen sie plötzlich allein da. Der Mittelpunkt ihres Lebens, was ihnen Sinn und Ziel gegeben hatte, war weg. Zerbrochene Träume, zerstörte Hoffnungen. Zwar war ihnen der Auferstandene begegnet, aber er lebte nicht mehr unter ihnen. Er war nicht mehr einfach verfügbar. Keiner mehr da, der ihnen den Weg des Glaubens wies, der ihnen den Ratschluss Gottes offenbarte.

Ratlosigkeit, Trauer, Resignation. Das alles wird Petrus wohl empfunden haben, als er zu seinen Gefährten sagte: «Ich gehe fischen.» Was sonst? Zurück ins Alte, Gewohnte. Zwar hatte ihnen der Auferstandene gesagt: «Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch», aber begriffen haben sie den Auftrag wohl nicht. Ohne die Nähe des Meisters schien alles sinnlos. Und so taten sie, was sie in ihrem früheren Leben gelernt und getan hatten: fischen. Aber, so heisst es, in jener Nacht fingen sie nichts. Ein Frust mehr!

Frustriert und mutlos, so fühlen sich viele Christen damals wie heute angesichts ihrer persönlichen Not und der Not dieser Welt, die von Hass und Krieg gebeutelt wird. Auf der Flucht oder in Flüchtlingsheimen werden sie sich fragen: Wo ist Gott? Wie können wir in den Osterjubel einstimmen: «Der Herr ist auferstanden!», wenn von diesem Sieg über Tod und Teufel so wenig zu spüren ist? Wo ist Jesus in unserem Alltag?

Der Herr begegnet uns oft anders, als wir es erwarten, zu andern Zeiten und an andern Orten. Aber ER ist da und sieht unseren Mangel. Er weiss nicht nur was, sondern auch wann wir etwas brauchen. Das lehrt uns diese Geschichte.

(Artikelauszug aus ethos 4/2017)